Gregor Gysi und die "Generation unpolitisch"
24. Mai 2016"Ich will einfach mal eine andere Sichtweise hören", sagt der 20-jährige Lukas. "Die VWL ist mir meistens zu marktradikal." Außerdem sei ihm der Linken-Politiker Gregor Gysi schlicht sympathisch. Der Kölner Volkswirtschafts-Student ist einer von Hunderten, die sich im Hof der Bonner Universität aufreihen - Stunden bevor der Vortrag beginnen soll. Der Andrang ist riesig: Fast 9000 Menschen hatten bei Facebook ihr Interesse bekundet, Gregor Gysi über die "soziale Frage im weltweiten Wachstumswahn" referieren zu hören.
Es ist kalt, es regnet und schon jetzt ist den meisten klar: In Hörsaal 1 wird nicht für alle Platz sein. Weit hinten in der Schlange steht die 22-jährige Biologie-Studentin Sonja. Politisch engagiert sei sie nicht, aber es sei eine politische Zeit - die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) und Pegida würden immer populärer. "Da will man Position zeigen", erklärt sie.
Konsumorientiert statt politisch?
Fast alle Wartenden sind zwischen 18 und 30 - sie gehören zur "Generation unpolitisch". Das attestieren ihr zumindest einige Studien. Vor zwei Jahren kam eine im Auftrag des Bundespresseamtes erstellte Erhebung von TMS Infratest zu dem Ergebnis: Lediglich 45 Prozent interessieren sich stark oder sehr stark für Politik. Weit wichtiger sei ihnen "berufliches Vorankommen sowie materielle Werte", heißt es in der Studie. Auch das Engagement in Parteien oder politischen Studentengruppen lasse immer weiter nach.
"Ich kann mir nicht vorstellen einer Partei beizutreten. Was meine Einstellungen und Überzeugungen angeht, müsste ich zu viele Abstriche machen", erklärt der VWL-Student Moritz. Er ergänzt: "Ich bin mit dem politischen System, so wie es heute existiert, nicht zufrieden."
Den Freiburger Soziologen Albert Scherr überrascht das nicht. Das Vertrauen in politische Institutionen sei bei Jugendlichen wie Erwachsenen gesunken. Viele seien zwar interessiert, aber nicht bereit, sich in Parteien zu engagieren. "Spezifische Probleme von Jugendlichen stehen auf der Prioritätenliste der Parteien ganz unten. Es mangelt seit Langem an einer offensiven Jugendpolitik, in der für Jugendliche erkennbar wäre, dass Parteien in ihrer Sprache über ihre Probleme sprechen", erläutert Scherr.
Die Sprache der vielen
Gregor Gysi glaubt, die Sprache der Massen zu sprechen. "Ich versuche Politik immer in eine Sprache zu übersetzen, die viele sprechen", sagt er vor Beginn des Vortrags der DW. "Die jungen Menschen erwarten von mir, dass ich meine eigene Meinung vertrete und keine Rücksicht auf das nehme, was die Medien verlangen oder was meine Partei verlangt. Diese Art von Eigenständigkeit respektieren sie, denke ich."
Dann betritt der ehemalige Vorsitzende der Linkspartei die Bühne. Und in der Tat: Er spricht die Sprache des Plenums. Zwar soll der studierte Rechtswissenschaftler eine Vorlesung halten, doch lässt er es sich nicht nehmen, im Rundumschlag die deutsche, europäische und internationale Politik auseinanderzunehmen. Mit einer unvergleichlichen Mischung aus Eloquenz, Witz, Ehrlichkeit und einer Portion Selbstkritik überzeugt er sein junges Publikum. Die Lacher werden immer lauter, der Applaus immer intensiver. Flüchtlingspolitik, AfD, TTIP, Bankenkrise - vielen Anwesenden spricht Gysi offenbar aus der Seele. Das Bachelor-Master-System? "Alles Schwachsinn." Es sorge kaum für internationale Vergleichbarkeit und nehme den Studenten stattdessen die Möglichkeit, ihre Interessen zu entfalten.
"Das geht nicht!"
Gysi zeigt Verständnis für die Belange seiner Zuhörer - und findet dennoch mahnende Worte: "Eines muss ich ihnen mal kritisch sagen: Dass Sie alle zusammen weniger rebellisch sind als ich, das geht auch nicht!" Das Gelächter ist groß, niemand nimmt ihm seine Direktheit übel.
"Ich glaube, dass Gregor Gysi durch seine sehr direkte Art, die nicht humorfrei ist und viel aus seiner persönlichen Erfahrung berichtet, von vielen interessant gefunden wird", meint Claudia Falk, Mitglied des Kreisvorstands der Linken in Bonn.
Auch David, 23-jähriger Physikstudent ist sich sicher, dass viele Studenten wegen der Persönlichkeit Gysi gekommen sind. "Er ist bei den neuen Medien sehr stark vertreten. Er ist bei Twitter aktiv und wirkt wie einer der wenigen Politiker, die Facebook verstanden haben." Außerdem sei er offen für andere Formate. "Letztens wurde er zum Beispiel von einem Hip Hop-Magazin interviewt. Das ist zwar eine kleine Sparte, die er damit anspricht - aber die gehört ganz klar zur Generation unpolitisch", meint David. Viele Jugendliche empfänden die Sozialen Medien als angemessene Form der Kommunikation, weiß auch der Soziologe Scherr. Facebook und Twitter seien für jeden zugänglich.
Andere Zeiten, andere Protestformen
Nur wenige Monate ist es her, dass ein Vortrag der Linken-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht an der Kölner Universität eine ähnliche Dynamik auslöste wie die Bonner Veranstaltung mit Gregor Gysi. Die Facebook Veranstaltung hatte die Runde gemacht, Tausende meldeten sich an. Das Ergebnis: Hunderte konnten letztlich nicht teilnehmen - der Saal war zu voll.
Er empfinde seine Generation nicht als unpolitisch, betont VWL-Student Lukas. Sein Kommilitone Moritz fügt hinzu: "Sich politisch zu betätigen, fängt für mich schon in einem Gespräch mit jemandem an, der eine andere Meinung hat als ich. Auch wenn man etwas auf Facebook teilt oder eine Petition unterschreibt, trägt das dazu bei, dass politisch etwas passiert."
Albert Scherr betont, er beobachte eine "breite Zunahme des informellen zivilgesellschaftlichen Engagements", zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe. Politisches Bewusstsein habe sich verändert. Viele Studenten erzählten ihm, sie ernährten sich vegetarisch, um Verantwortungsbewusstsein gegenüber Ökologie und Natur zu beweisen. Sie konzentrierten sich auf "alltägliche Themen und Handlungen, die politisch relevante Fragen berühren, aber eben nicht in die Mitarbeit in Parteien oder Bürgerinitiativen übersetzt werden."
Drei Abiturientinnen erzählen, sie gingen öfter auf Demonstrationen oder hörten sich Vorträge an. Sie wollten etwas verändern. In Deutschland laufe viel schief, findet die 18-jährige Amanda. Sie fragt: "Wenn wir es nicht machen, wer denn dann?"