Gotzmann: "Ein Glaubwürdigkeitsproblem"
9. Dezember 2016DW: Der zweite McLaren-Report zeigt, dass der Doping-Sumpf in Russland noch viel tiefer ist, als bislang bekannt. Wie fällt Ihre Reaktion aus?
Andrea Gotzmann: Zunächst war ich sprachlos. Was wir hier über systematisches und perfides Doping im russischen Sport erfahren haben, das hat mich erschüttert. Es war heftig, was uns an Fakten von Richard McLaren und seinem Team an die Hand gegeben wurde.
Was hat Sie besonders erschüttert?
Erstens die Systematik, dann aber auch der Zeitraum: seit 2012, mit Vorlauf auf die Olympischen Sommerspiele in London. Und die Anzahl der Athletinnen und Athleten: Es sind über 1000 aus allen Sportarten - überwiegend Sommersportarten, aber auch Wintersportarten und aus dem paralympischen Sport. Das ist ein Ausmaß, das man sich wirklich kaum vorstellen konnte. Man muss eigentlich jetzt konstatieren, dass die Ergebnislisten neu geschrieben werden müssen, denn wir haben wahrscheinlich viele Gewinner, die auf dem Treppchen Medaillen entgegen genommen haben, die das so gar nicht verdient haben, weil sie gedopt waren. Das muss man aufarbeiten. Das wird die Aufgabe vieler sein, die 150 Seiten, die uns Herr McLaren an die Hand gegeben hat, auszuwerten und dann mit Nachdruck Konsequenzen für die namentlich genannten Personen und Institutionen zu fordern.
Was sollten Ihrer Meinung nach die Konsequenzen sein?
Wir haben einen WADA-Code, der auch im Einzelfall strikt angewendet werden muss. Wir haben schon nach dem ersten McLaren-Report einen Komplettausschluss der russischen Mannschaft von den Olympischen Spielen gefordert. Der internationale Leichtathletik-Verband hat dies vollzogen, auch das IPC, der Internationale Paralympische Verband. Aber es ist nicht voll umfänglich von allen Organisationen so umgesetzt worden.
Faire und saubere Wettkämpfe
Sie spielen auf das Internationale Olympische Komitee (IOC) an. Erwarten Sie von dort zeitnah eine Reaktion?
Natürlich! Wir haben ein nachhaltiges Glaubwürdigkeitsproblem und müssen den sauberen Athletinnen und Athleten irgendwie das Vertrauen in die internationale Anti-Doping-Arbeit zurückgeben. Denn diese Sportler wollen und fordern, genau wie wir und jeder Zuschauer, faire und saubere Wettkämpfe. Ich glaube, dass ein Reformprozess in Gang gesetzt werden muss. Hierzu gab es bereits Forderungen von uns zusammen mit 15 unserer Partnerorganisationen, nach einer Stärkung der Welt-Anti-Doping-Agentur in ihrer Handlungsfähigkeit unabhängig von den Interessen des Sports. Wir wollen Interessenkonflikte auflösen. Das werden wir mit Nachdruck einfordern.
Wie sehen Sie vor dem Hintergrund die Vergabe sportlicher Großereignisse an Russland?
Da hat es bereits nach dem ersten Report eine Empfehlung gegeben, dass man dies deutlich zurückfahren und keine Großereignisse mehr an Russland vergeben sollte.
Wäre zum Beispiel ein Wieder-weg-nehmen der Fußball-WM 2018 ein Druckmittel, das man anwenden könnte?
Da sind andere gefordert, dies zu entscheiden, aber ich glaube, es muss alles auf den Tisch. Und dann müssen wir in die Zukunft blicken und sehen, wie wir den Sport wieder sauber und glaubwürdig bekommen, damit wir faire Ergebnisse haben. Das sind wir den Athletinnen und Athleten schuldig, die ihren Sport so betreiben, wie es eigentlich normal ist - nämlich ohne Doping.
Was muss speziell Russland tun, um seinen Ruf wieder herzustellen?
Auch hier sind tiefgreifende Reformen notwendig, aber erstmal das Eingeständnis, dass man ein Problem hat und eine Bewusstseinsänderung, wie Sport eigentlich umgesetzt werden soll: sauber, fair, ehrlich. Es braucht entsprechende Kontrollmaßnahmen und Präventionen, das Bewusstsein zu schulen, und das natürlich auch mit Hilfe von außen. Die WADA hat hier schon einige Maßnahmen umgesetzt, aber das muss noch strikter, noch konsequenter und noch detaillierter vonstattengehen.
Nicht bloß Propaganda
Glauben Sie, dass die russische Seite dieses Bewusstsein irgendwann entwickeln kann? Erste Reaktionen sprechen von gegenstandlosen Beschuldigungen, die jeder realen Grundlage entbehrten.
Ich glaube, dass Herr McLaren einiges an Beweisen und Belegen aufgelistet hat, auch forensischer Art, was die Manipulation und den Austausch von Proben angeht. Es gibt Nachweise mit DNA-Tests. Ich glaube, das sind Dinge, die man nicht so einfach als Propaganda vom Tisch wischen kann. Daher danken wir Richard McLaren, dass er seine Ermittlungen so akribisch durchgeführt hat und dass er klar gesagt hat, er braucht die Zeit. Es gab so viele Dinge auszuwerten, so viele Zeugenaussagen, aber auch direkte Beweise in der Doping-Analytik und bei anderen forensischen Methoden, dass wir jetzt ein umfassendes Bild haben.
Zumindest ein umfassendes Bild für Russland. Denken Sie, dass derartige Zustände mit staatlich gelenktem und von Staatsseite vertuschtem Doping nur in Russland herrschen, oder muss man auch andere Länder im Blick haben?
Ich glaube, wir haben noch mehr Problembereiche. Das ist auch im Rahmen der Nachtests der Olympischen Spiele von Peking 2008 und London 2012 zu Tage getreten, dass bei einigen Nationen im Nachhinein eine Vielzahl von positiven Proben auftauchte. Es sind Länder genannt worden wie Weißrussland, aber auch die Ukraine. Man muss sehen, wie man hier die Systeme auf Vordermann bringen und von außen ein Kontrollsystem installieren kann, das diesen Namen auch verdient.
Die ehemalige deutsche Basketball-Nationalspielerin Andrea Gotzmann ist seit September 2011 Vorstandsvorsitzende der Deutschen Anti-Doping-Agentur NADA. Zuvor arbeitete die studierte Chemikerin im Doping-Analyse-Labor der Deutschen Sporthochschule Köln.
Das Interview führte Andreas Sten-Ziemons