Gletscherschmelze in den Schweizer Alpen
26. September 2017Risse, Risse, Risse. Links, rechts und auf dem steinigen Pfad, überall tun sich Risse auf. So tief reichen die fußbreiten Schlitze in den Berg hinein, dass ein ganzes Bein in ihnen verschwindet. Jeder Schritt ist ein Risiko. "Wir nennen diese Risse einen Hackenwurf", ruft Peter Schwitter und schnürt seinen Rucksack fester um den Rücken.
Schwitter stapft über das steinige Terrain rund um die Bergstation Moosfluh in den Schweizer Alpen, die Gefahrenzone liegt auf 2330 Metern Höhe. Die Risse auf der Moosfluh vertiefen und verlängern sich immer stärker, Gestein löst sich und stürzt ab. Irgendwann droht hier ein gigantischer Bergsturz.
Schwitter arbeitet als Naturgefahren-Beobachter des Schweizer Kantons Wallis. Der drahtige Mittfünfziger, der alle Viertausender der Alpen bezwungen hat, richtet seinen Blick nach Norden. Dort liegt ein Gigant: Der Große Aletschgletscher, der größte Gletscher der Alpen.
Ein kalter Riese stirbt
Es ist ein Eisstrom, der sich 23 Kilometer durch das Hochgebirge schlängelt, elegant und mächtig, umsäumt von Riesen wie Mönch und Jungfrau. Die 82 Quadratkilometer große Fläche bildet das Herzstück des Unesco-Weltkulturerbes Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch. Ein unwiderstehliches Wunderwerk der Natur. Es ist dem Untergang geweiht.
"Der Aletsch verschwindet, langsam aber sicher", erklärt Gefahrenbeobachter Schwitter, sein gebräuntes Gesicht nimmt ernste Züge an. Es ist der Klimawandel. Die steigenden Temperaturen lassen das Eis in dem riesigen alpinen Gefrierfach auftauen. Auf einer farbigen Karte mit Linien und Höhenangaben zeichnet Schwitter den Schwund nach. Seit 1892 verkürzt sich der Große Aletsch pro Jahr im Durchschnitt um 23 Meter.
Der Berg wird zur Gefahr
In den letzten Jahren ging es immer schneller, pro Jahr büßt der kalte Riese nach Angaben des Schweizer Bundesamtes für Umwelt bis zu 50 Meter ein. "Und deshalb entstehen die Risse auf der Moosfluh, deshalb will der untere Teil des Berges einfach weg", weiß Schwitter. "Der Gegendruck des Gletschers auf den Berg wird immer schwächer, das Gestein bröckelt ab."
Im Moosfluh-Gebiet rutscht eine rund zwei Quadratkilometer große Fläche in Richtung Aletschgletscher, heißt es aus dem Bundesamt für Umwelt. Die Gesteinsmassen umfassen ein Volumen von mindestens 150 Millionen Kubikmetern. Zum Vergleich: Beim Bergsturz am 23. August
2017 in Graubünden lösten sich vier Millionen Kubikmeter und verwüsteten ein ganzes Tal. "Das ist ein Prozess, den man nicht mehr stoppen kann", sagt Schwitter und lugt in die Tiefe. "Die Bewegungen haben sich seit September des vergangenen Jahres dramatisch verschnellert, vorher waren sie konstant langsam und gegenüber den heutigen Bewegungen minimal."
Die Gletscherschmelze ist nicht mehr aufzuhalten
Nicht nur der Große Aletsch, alle Gletscher in der Schweiz ziehen sich zurück. Seit 1850 halbierte sich die Gesamtfläche der helvetischen Glaciers von 1735 Quadratkilometer auf heute 890 Quadratkilometer. Experten wie Matthias Huss von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich sagen voraus, dass die Eismassen fast vollständig verschwinden werden.
"Die Schweizer Gletscher sind nicht mehr zu retten", bestätigt der Glaziologe. "Selbst wenn die Erderwärmung sich verlangsamt, kommt das für die Schweizer Gletscher zu spät." Bis Ende des Jahrhunderts würden bis zu 90 Prozent der gefrorenen Massen nicht mehr vorhanden sein. Huss begab sich in diesem Sommer auf Inspektionsreise. Sein Fazit: "2017 ist für die Gletscher ein sehr schlechtes Jahr."
Gefahren vertreiben Touristen
Denn der vergangene Winter brachte wenig schützenden Schnee für die Eisschichten, die Hitze von Juni bis Ende August griff sie unaufhörlich an. Der Klimawandel, so sind sich Forscher wie Huss sicher, wird das Schmelz-Tempo weiter beschleunigen. Die Folgen: Berge rutschen, es droht Wassermangel und zahlungskräftige Touristen machen einen großen Bogen um die Alpen.
Den meisten Folgen des Klimawandels können die Bergler nicht trotzen, besonders nicht dem Schneemangel. "In den letzten Jahren fiel im Winter immer weniger Schnee", heißt es bei den Hoteliers auf der Riederalp, unweit des Großen Aletschgletschers. "Die Skisaison verkürzt sich und die Zahl der Wintersportler, die hier hoch kommen, schrumpft auch."
Doch sollen die Risiken für die Touristen so klein wie möglich gehalten werden, denn die Fremden spülen Geld in die Kassen der abgelegenen Region. Deshalb überwachen die Behörden mit modernster Satelliten-Technik die Gefahrenzone am Aletsch. Sie sperrten sechs Kilometer Wanderwege, große Schilder warnen vor dem mobilen Gestein.
Immerhin hat Naturgefahrenbeobachter Schwitter eine gute Nachricht zu bieten: "Bis jetzt sind noch keine Wanderer auf den abbröckelnden Gebieten tödlich verunglückt."
Jan Dirk Herbermann (epd)