Daniel Kehlmanns neuer Roman: "Tyll"
9. Oktober 2017Das ist schon ein literarischer Coup - zumindest ein genialer Marketingschachzug. Daniel Kehlmann, seit seinem Roman "Die Vermessung der Welt" 2005 einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Romanautoren, hat sich dem Rummel um den Deutschen Buchpreis entzogen. Verlag und Autor haben den neuen Roman "Tyll" gar nicht erst eingereicht. Nach dem Motto: "Ein Kehlmann" hat so einen Preis gar nicht nötig…
Ursprünglich sollte "Tyll" zwei Tage nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises am 11. Oktober erscheinen. Nun kommt es sogar zwei Tage früher raus - und liegt ausgerechnet am Tag, an dem in Frankfurt in feierlichem Rahmen der Deutsche Buchpreis vergeben wird (09.10.), auf den Verkaufstischen der Buchläden. Die Reaktionen der deutschen Presse scheinen dem kühnen Marketingschachzug recht zu geben: Alle wichtigen deutschen Zeitungen und Zeitschriften stellen in ihren Literaturteilen und Wochenendausgaben Kehlmanns Roman in großen Artikeln vor - mit ausschließlich positiven Rezensionen.
In den Fußstapfen von Patrick Süskind
Das "Phänomen Kehlmann" ist ja längst auch ein internationales. Der Name steht inzwischen für deutsche Literatur. Die "New York Times" listete Kehlmanns großen Erfolg "Die Vermessung der Welt" als weltweit zweiterfolgreichstes Buch des Jahres 2006 auf. In Deutschland wurden bisher rund 2,5 Millionen Exemplare verkauft, weltweit ging der Roman 6 Millionen Mal über die Ladentische. Zahlen, die es seit dem legendär erfolgreichen Roman "Das Parfüm" (1985) von Patrick Süskind so von keinem deutschen Autor mehr gegeben hatte.
Nun also ein neuer Kehlmann, noch dazu ein fast 500 Seiten starkes Buch, wieder ein historischer Roman, ein Text, an dem sein Autor nach eigenen Angaben fünf Jahre gearbeitet hat. Worum geht es? Mit der Titelgestalt "Tyll" ist niemand anderes gemeint als Till Eulenspiegel, ein Gaukler und Schalk, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts vermutlich tatsächlich gelebt hat, und der es vor allem durch eine berühmte mittelhochdeutsche Dichtung, die rund 200 Jahre später erschien, zu Ruhm gebracht hat: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel geboren uß dem Land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat.
Vieles in der Schwebe
Daniel Kehlmann nun hat diese historisch-literarische Figur in den Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) versetzt, also rund 300 Jahre nach den spärlich vorhandenen und verbürgten biografischen Lebensdaten Till Eulenspiegels. Ein literarisches Kunststück, für so manchen Historiker vermutlich eine Untat. Doch Kehlmann ist Romanautor - und Literatur hat sich bekanntlich nicht an irgendwelche Vorgaben zu halten.
Die zweite Überraschung, auf die der Leser von "Tyll" stößt, ist der dramaturgische Romanaufbau. Denn "Tyll" ist keineswegs ein Roman über Till Eulenspiegel. Kehlmann nimmt seinen Protagonisten lediglich als Bindeglied, mit dem er seine einzelnen Geschichten und Geschichtchen aneinanderreiht. Nach einem kurzem Prolog, in dem der Leser Till Eulenspiegel erstmals begegnet und ihm zeigt, wie dieser in einem Dorf dem verdatterten Publikum Seiltanzkunststücke vorführt, verlässt Kehlmann - und mit ihm seine Leser - den Gaukler und widmet sich für lange Zeit dem Schicksal von Tills Vater Claus Eulenspiegel.
Der ist ein wissbegieriger Müller, der sich Gedanken über den Lauf der Welt macht, ein sympathischer Handwerker, der allerdings das Pech hat, in die Fänge zweier Jesuiten zu geraten. Die foltern im Stile der Inquisition aus der ehrbaren Dorfbevölkerung den rechten Glauben heraus, bringen Claus schließlich auf den Scheiterhaufen. Erst nach 160 Seiten begegnen wir dann dem Sohn wieder. Der ist von nun an auf der Flucht, stets in Begleitung der hübschen Nachbarstochter Nele. Ob die beiden ein Paar sind, das lässt der Roman, wie so manches andere, in der Schwebe.
Till taucht immer wieder ab
Auf den nun folgenden Seiten sind es verschiedene Begegnungen mit einer Reihe erfundener sowie verbürgter, berühmter Zeitgenossen, die dem Roman Struktur verleihen. Der Schalk und Gaukler Till, der nicht nur witzig und unterhaltend sein will, sondern manchmal auch bösartig und unberechenbar sein kann, begleitet diese Zeitgenossen eine Weile, verlässt sie wieder, wechselt Orte und Landschaften. Die eigentliche Roman-Hauptfigur taucht so immer wieder für längere Zeit ab, andere literarische Protagonisten schieben sich in den Vordergrund.
Zuallererst wären da zu nennen: Das unglückliche Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen, denen das mit Abstand längste Kapitel des Romans gewidmet ist. Friedrich von Böhmen, genannt der Winterkönig, löste mit seinem Streben nach Macht den Dreißigjährigen Krieg mit aus. Friedrichs böhmische Herrschaft hatte sich dann nach gut einem Jahr schon wieder erledigt (deshalb der Beiname "Winterkönig" für die Herrschaft für nur einen Winter), doch in Europa brach ein Blutrausch aus.
Der Dreißigjährige Krieg, in dem es neben der zentralen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Habsburg vornehmlich um Glaubenshoheit zwischen Katholiken und Protestanten ging, brachte unermessliches Leid über den Kontinent, Millionen Tote, eine Pestepidemie, verwüstete Landschaften.
Dialoge in der Manier von "Die Vermessung der Welt"
Wie Kehlmann in diesen und den anderen Kapiteln die historischen Figuren aufeinanderprallen lässt, mit spritzigen Dialogen vor satirisch-ironischer Szenerie, dass erinnert in machen Sequenzen an "Die Vermessung der Welt", in dem die beiden Wissenschaftler Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt aufeinander trafen. Auch in "Tyll" sind es Figuren wie Friedrich und Elisabeth, der Schwedenkönig Gustav Adolf, aber auch berühmte Gelehrte und Hochstapler der Zeit wie Athanasius Kircher, die Kehlmann vor den Augen der Leser plastisch auferstehen lässt.
Athanasius Kircher, unter anderem Experte in Sachen Drachen, breitet an einer Stelle seine "wissenschaftliche Philosophie" aus:
"…Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt - jene nämlich, sich unauffindbar zu machen. Aus genau diesem Grund hat man allen Berichten von Leuten, die Drachen gesichtet haben wollen, mit äußerstem Unglauben zu begegnen, denn ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist."
Begeisterte Rezensenten
Eine typische Sentenz, die Kehlmanns Thema Wahrheit und Fiktion auf den Punkt bringt. Was nun wirklich wahr ist in diesem historisch-literarischen Zeitgemälde "Tyll", in dem schon die Titelfigur 300 Jahre "zu spät" die Romanhandlung betritt, was Fiktion und was historische Annäherung ist, was Phantasie und was verdichtetet Historie, dass lässt Kehlmann offen. "Tyll" ist ein Roman, in dem Historie und Fiktion einen kühnen Bund schließen.
Kehlmanns bislang bester Roman, urteilte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Der Kritiker der "Welt" war ebenso begeistert: "Kehlmanns Erzählkunst ist immer wieder verblüffend, ist leicht, ist Schein, ist Tanz auf dem Seil in schwindelnder Höhe." Die Wochenzeitschrift "Die Zeit" vergleicht "Tyll" mit den Büchern von Umberto Eco und Alfred Döblin und der Rezensent des "Spiegel" kommt zu dem Urteil: "'Tyll' ist Daniel Kehlmanns Sieg über die Geschichte, sein historischer Triumph".
Eines ist zumindest sicher, auch wenn nicht alle Leser den historischen Abgründen und literarischen Schaubildern des Daniel Kehlmann über knapp 500 Seiten folgen werden. Der Roman "Tyll" wird das Weihnachtsgeschäft im deutschen Buchhandel ankurbeln und beleben - völlig unabhängig vom "Deutschen Buchpreis".