Chemiewaffen im Syrienkrieg
11. April 2018Im syrischen Bürgerkrieg sind seit 2011 geschätzt 400.000 Menschen getötet worden, ganz überwiegend mit konventionellen Waffen. Aber es sind die geschätzt etwa 2000 Toten der 85 von Human Rights Watch dokumentierten Chemiewaffeneinsätze, an denen sich die stärksten Reaktionen des Auslands festmachen. Selbst innerhalb des Horrors eines konventionellen Kriegs bedeutet der Einsatz von Chemiewaffen die Überschreitung einer zivilisatorischen Grenze. Die ist über Gesellschaften und Nationen hinweg anerkannt und hat im Vertrag über das Verbot von Chemiewaffen ihren institutionellen Niederschlag gefunden. Mit dem Nachweis oder dem Vorwurf des Einsatzes von Chemiewaffen lassen sich Stimmungen generieren. Militärisch haben Chemiewaffen im Syrien-Krieg keine wesentliche Rolle gespielt. Doch politisch und psychologisch ist der Einsatz enorm wichtig. Ein Überblick über die giftige Grausamkeit im Krieg von Syrien.
"Obamas rote Linie"
Am 20. August 2012 hat der damalige US-Präsident Barack Obama erklärt, der Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg würde eine "rote Linie" überschreiten. Erst einen Monat zuvor hatte Syrien zum ersten Mal offiziell den Besitz von Chemiewaffen eingeräumt, am 23. Juli 2012. Chemiewaffen gelten als die "Atomwaffen des kleinen Mannes". Die syrischen Chemiewaffenarsenale waren vor allem zur Abschreckung gegenüber dem Atomwaffenstaat Israel aufgebaut worden. Mit dieser Ankündigung hatte Obama sein Prestige und das der USA in die Waagschale geworfen – und sich selbst dadurch manipulierbar gemacht. Zu diesem Zeitpunkt tobte der syrische Bürgerkrieg bereits seit über einem Jahr.
Erster Vorwurf
Noch im selben Jahr wurde der erste Vorwurf wegen des Einsatzes von Chemiewaffen erhoben: In der Stadt Homs sollen am 23. Dezember 2012 sieben Menschen durch ein "giftiges Gas" getötet worden sein. Umgekehrt beklagt die syrische Regierung am 19. März 2013, Rebellen hätten Vorstädte von Damaskus und Aleppo mit Chemiewaffen angegriffen. 25 Menschen sollen dabei umgekommen sein, 16 davon Regierungssoldaten. Die syrische Regierung verlangt eine Untersuchung durch die Vereinten Nationen. Es folgen mindestens drei weitere Angriffe mit Chemiewaffen, die der Assad-Regierung zur Last gelegt werden. Die Regierung Assad lässt im August 2013 eine Gruppe von UN-Chemiewaffen-Inspektoren ins Land.
Das Drama von Ghouta
Gerade als die UN-Inspektoren im Land sind, berichten am 21. August 2013 Aktivisten der Opposition von einem großangelegten Angriff mit dem Giftgas Sarin in Ghouta bei Damaskus. Genaue Opferzahlen gibt es bis heute nicht. Man rechnet mit rund 1000 Todesopfern, die meisten davon Zivilisten. Syriens Regierung weist alle Anschuldigungen zurück. Die Geheimdienste westlicher Staaten sprechen von einer "hohen Wahrscheinlichkeit", dass die Regierung Assad für die Sarin-Toten von Ghouta verantwortlich sei. Präsident Obama kündigt an, den Kongress um Erlaubnis für militärisches Eingreifen zu bitten.
Vernichtung von Chemiewaffen
Nachdem US-Außenminister John Kerry angekündigt hatte, ein militärisches Eingreifen könne vermieden werden, sollte Assad all seine Chemiewaffen abgeben, springen sowohl der russische Außenminister Sergei Lawrow als auch die syrische Regierung im September 2013 innerhalb weniger Stunden auf diesen Vorschlag an. Im Ergebnis legt Syrien seine Chemiewaffenarsenale und Produktionsstätten offen. Rund 1300 Tonnen Chemiewaffen werden auf einem Spezialschiff im Mittelmeer vernichtet. Im Juli 2014 meldet die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OPCW, die Verschiffung der letzten 100 Tonnen registrierter Chemiewaffen. 30 Staaten waren an der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen beteiligt.
Chemiewaffen beim IS
Nicht nur das Assad-Regime verfügt über Chemiewaffen. Auch der sogenannte Islamische Staat stellt Chemiewaffen her und setzt sie auch ein - vor allem Chlorgas und Senfgas. Der britische Informationsdienst IHS Markit kommt in einer Studie 2017 auf 71 Giftgaseinsätze seit 2014, die dem IS zugeschrieben werden können, davon 30 in Syrien. Möglicherweise hat der IS mit seinen Chemiewaffen auch gehandelt und sie an andere Dschihadistengruppen weitergegeben.
Bereits Ende 2012 waren die USA besorgt, syrische Chemiewaffenvorräte könnten angesichts der damals auf breiter Front zurück gedrängten Regierungstruppen in die Hände von Dschihadisten fallen. Die Washington Post zitierte am 16. Dezember 2012 den zur Opposition übergelaufenen Generalmajor Adnan Silou mit der Warnung, "möglicherweise könne jeder von der Freien Syrischen Armee oder jede Islamische Extremistengruppe die Waffen übernehmen". Silous Warnung trug besonderes Gewicht: Er hatte zuvor das Chemiewaffentraining der syrischen Armee geleitet
Trumps "rote Linie"
Internationale Aufmerksamkeit erregen Chemiewaffen in Syrien erneut am 4. April 2017. In der von dschihadistischen Rebellen kontrollierten nordsyrischen Provinz Idlib wird in Khan Sheikhun ein Chemiewaffenangriff gemeldet: Geschätzt 80 Menschen sollen durch Sarin getötet worden sein. Die OPCW nimmt die Untersuchung auf, aber für die Regierungen des Westens steht schnell die Regierung Assad als Schuldiger fest. Am 6. August lässt der damals noch relativ neu amtierende US-Präsident Donald Trump 59 Raketen auf den Flughafen abfeuern, von dem das Kampfflugzeug mit dem Giftgas aufgestiegen sein soll. Diese Aktion, befohlen am am Rande eines Gipfeltreffens mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping, sollte nach Trumps Worten "die Verbreitung und den Einsatz tödlicher chemischer Waffen verhindern."
Erneut Duma
Nachdem es Anfang 2018 bereits mehrere Berichte über den Einsatz von Chlorgas in Duma bei Damaskus gab, wird am 7. April ein weiterer Angriff mit Chlorgas gemeldet: Mehrere Dutzend Menschen sollen getötet worden sein. Beschuldigt wird erneut das Assad-Regime. Das hat in einer seit Monaten laufenden Offensive den größten Teil Ost-Ghoutas bereits zurück erobert und steht eigentlich ohnehin kurz vor dem Sieg. Auf die Vorwürfe des Westens, für dieses Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein, antworten Assad und seine russischen Partner, es handele sich um eine Aktion der Rebellen selbst. Das Säbelrasseln wird bedrohlich laut.