1. Giftgas-Angriff
22. April 2010Westfront, Belgien. In den Schützengräben bei Ypern liegen sich deutsche und alliierte Truppen gegenüber. Schon seit vielen Monaten wird hier gekämpft - Tausende Soldaten sterben auf beiden Seiten für ein kleines Stückchen Geländegewinn. Doch die Front bewegt sich kaum. An diesem 22. April wird alles anders. Gegen 17 Uhr schießen drei rote Raketen in den Himmel, dann beginnt ein ohrenbetäubendes Artilleriefeuer. Granaten schlagen in die Schützengräben der alliierten Frontkämpfer ein. Plötzlich sehen die verschanzten Soldaten zwei grünlichgelbe Wolken auf sich zutreiben, die zu einer einzigen blauweißen Nebelbank verschmelzen. In einer Breite von fast sechs Kilometern bewegt sie sich langsam, aber stetig mit dem Wind auf die Verteidigungsgräben zu. Es handelt sich um Chlorgas, das aus fast 6.000 Stahlflaschen abgelassen wurde. Ein dafür ausgebildetes deutsches Regiment hatte die Aktion Tage zuvor vorbereitet.
Später notiert der Kommandierende General Bertold von Deimling in seinen Memoiren: "Ich muss gestehen, dass die Aufgabe, die Feinde vergiften zu sollen wie die Ratten, mir innerlich gegen den Strich ging. Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden."
"Die Franzosen fliehen!"
Zunächst sieht es tatsächlich nach einem Erfog aus. Unter den alliierten Soldaten bricht Panik aus. Viele von ihnen klagen über Atembeschwerden, Hustenreiz und schweres Ohrensausen. Manche spucken Blut, rufen nach Wasser oder wälzen sich qualvoll nach Luft ringend am Boden. Es war ein Gefühl, berichtet später ein Überlebender, als kotze man seine Lunge stückweise aus. Die Wirkung des Gases wird durch die Beimischung von Phosgen verstärkt. Bei vielen Soldaten tritt der Tod sofort ein, andere versuchen vergeblich der Gaswolke zu entkommen: Doch wer die giftigen Dämpfe erst eingeatmet hat, stirbt nach wenigen Minuten.
Die chemische Kriegsführung beginnt
Der Gasangriff hat die alliierten Befehlshaber vollkommen überrascht. Den Deutschen gelingt es, ein sechs Kilometer breites Loch in die Westfront zu reißen. An diesem einem Nachmittag bezwingen sie Verteidigungsanlagen, die zuvor monatelang gehalten worden sind. Auch der deutsche Befehlshaber General Erich von Falkenhayn ist über die enorme Wirkung der chemischen Kriegsführung überrascht. Die Deutschen schätzen, dass die Alliierten 5.000 Tote und 10.000 Verletzte zu beklagen haben.
Von nun an zielt die moderne Kriegsführung nicht mehr allein auf die Bereitschaft und Fähigkeit ab, mit eigener Hand, mit eigener Waffe von Angesicht zu Angesicht einen Feind zu töten. Chemische Kampfmittel sind viel effektiver - und so setzen beide Kriegsparteien nach der deutschen Ypern-Offensive vermehrt Giftgas ein - im Bewusstsein, gegen das geltende Kriegs- und Völkerrecht zu verstoßen.
Nobelpreisträger Fritz Haber als Helfershelfer
Ersonnen und organisiert worden ist der erste große Giftgaseinsatz von Fritz Haber, dem Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie in Berlin und Leiter des Referats für „Gaskampfwesen“ im Kriegsministerium. Ein deutscher Offizier charakterisiert ihn damals so: „In glühendem Patriotismus bewies er bei der Erprobung der chemischen Massenvernichtungsmittel Kaltblütigkeit, Unerschrockenheit und Todesverachtung.“
Haber wird als Nationalheld gefeiert. Doch seine Frau, selbst promovierte Chemikerin, begeht wenige Tage nach dem Giftgasangriff mit der Dienstwaffe ihres Mannes Selbstmord. Sie kann das, was ihr Mann getan hat, nicht ertragen.
Als Chemiker experimentiert Haber mit giftigen Gasen und erfindet tödliche Mixturen für das Militär. 1918 erhält er den Nobelpreis für die Entwicklung der Ammoniaksynthese, der Grundlage für chemische Kampfmittel.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird Haber aufgrund des Verstoßes gegen die Hagger Landkriegsordnung von den Alliierten zeitweilig als Kriegsverbrecher gesucht. Es klingt schon fast zynisch, dass Haber 1933 als Jude Deutschland verlassen muss. Einige seiner Angehörigen werden später in Auschwitz ermordet. Dabei wird unter anderem das Gas eingesetzt wird, das er selbst mit seinen Kollegen Jahre zuvor entwickelt hat.
Der unaufhaltsame Aufstieg von B- und C-Waffen
Seit dem Ersten Weltkrieg gehört der Einsatz biologisch-chemischer Kampfstoffe zum Kriegsalltag. Die Beispiele dafür sind zahlreich: der Einsatz von Zyklon B in den Vernichtungslagern der SS zur Ermordung der europäischen Juden, die Luftangriffe der US-Air Force auf Nordvietnam mit giftigen Substanzen wie „Agent Orange“ und Dioxin, oder der irakische B-Waffen-Einsatz gegen die kurdische Bevölkerung.
Seit 1997 sind chemische Waffen durch die Chemiewaffenkonvention international offiziell geächtet; auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung sind verboten. Dennoch bleiben die USA, neben Russland, nach wie vor größter Besitzer chemischer Kampfstoffe.
Autor: Michael Marek
Redaktion: Silke Wünsch