Gewalt und Straffreiheit am Nil
7. Oktober 2013Alis wütende Stimme schallt durch die engen Gassen des Kairoer Arbeiterviertels Fustat. Der junge IT-Techniker führt am Sonntag einen Protestmarsch der Muslimbruderschaft an, dem sich mehrere hundert Menschen angeschlossen haben. Männer, Frauen, auch einige Kinder. Ziel der Demonstranten ist der etwa vier Kilometer entfernte Tahrir-Platz im Herzen der Metropole, auf dem zu diesem Zeitpunkt Anhänger der Armee den 40. Jahrestag des Jim-Kippur-Kriegs gegen Israel feiern. "Nieder mit der Militärherrschaft. Nieder mit den Sklaven des Militärs", skandiert Ali. Die Menge hinter ihm wiederholt die Parolen im Chor.
Schon nach wenigen Minuten gerät ihr Marsch ins Stocken. Eine Gruppe Jugendlicher blockiert den Weg, von den Balkonen lassen Anwohner Steine und Flaschen auf die Demonstranten regnen. Ein Teenager in Flip-Flops und ausgewaschenem T-Shirt zieht plötzlich eine Pistole und schießt in Richtung Islamisten. Kurz darauf trägt der Wind eine Tränengaswolke in die Gasse, Bereitschaftspolizisten strömen herbei, die Menge löst sich auf.
Zivilisten gegen Zivilisten
Die Demonstrationen am Sonntag sind die größten seit Wochen. Dennoch erreicht kein einziger der vielen Protestmärsche den Tahrir-Platz. Stattdessen verlieren landesweit mehr als 50 Demonstranten ihr Leben, die meisten von ihnen bei Straßenschlachten in Kairo. Ärzte berichten, die Mehrheit der Opfer sei mit scharfer Munition getötet worden. Die Muslimbruderschaft spricht von einem weiteren "Massaker", die Regierung von einer "Fortsetzung des Kampfes gegen den Terrorismus".
Zum ersten Mal seit dem Sturz des Präsidenten Mohammed Mursi vor drei Monaten geht ein großer Teil der gegen die Islamisten gerichteten Gewalt von Zivilisten aus. Die Krawalle zwischen Mursi-Anhängern, Quartierbewohnern und Schlägertrupps dauern vielerorts bis spät in die Nacht an.
Gamal Naggar ist einer von denen, die sich den Islamistenmärschen in den Weg stellen. "Die Polizei bewacht nur ihre eigenen Einrichtungen. Deswegen beschützen wir unsere Häuser, Läden und Angehörige selbst", sagt der mit einer Eisenstange bewaffnete Mechaniker von der Nil-Insel Manial, wo es in den vergangenen Wochen mehrfach Tote bei Zusammenstößen gab. Solange sich die Demonstranten friedlich verhalten, wolle er sie jedoch in Ruhe lassen, erklärt Naggar.
Gefährliche Regierungsrhetorik
Zahlreiche andere Gegner der Islamisten üben hingegen keine Zurückhaltung. In mehreren Vierteln der Hauptstadt kam es zu brutalen Attacken auf die Demonstranten. Augenzeugen berichten, dass Anwohner mit Rückendeckung der Sicherheitskräfte das Feuer auf Mursi-Anhänger eröffnet hätten.
Die Übergriffe sind auch ein Ergebnis der Regierungsrhetorik: Wer am nationalen Feiertag gegen die Armee demonstriere, handle im Sinn ausländischer Spione, warnte ein Sprecher des Übergangspräsidenten Adli Mansur. In einem kürzlich aufgetauchten Video sicherte Armeechef Abdel Fattah al-Sisi den Sicherheitskräften außerdem zu, dass sie keine rechtlichen Konsequenzen zu fürchten hätten, sollten Demonstranten durch ihr Vorgehen umkommen.
Ein Mitglied der Muslimbrüder schimpft: "Er hat bekanntgegeben, dass er keinen Offizier vor Gericht stellen wird, egal ob dieser Demonstranten tötet oder ihnen in die Augen schießt. Auf diese Weise stachelt er die Sicherheitskräfte weiter an."
"Wirtschaft in die Knie zwingen"
Vereinzelt kommt es auch am Sonntag zu gewaltsamen Übergriffen der islamistischen Demonstranten auf Anhänger der Armee. So verprügeln Demonstranten im Zentrum Kairos die bekannte Fernsehmoderatorin Buthaina Kamel, die sich als bislang einzige Frau des Landes um das Präsidentenamt bewarb.
Fast alle Todesopfer an diesem Tag stammen aber aus den Reihen der Mursi-Anhänger. Sicherheitskräfte wie auch Zivilisten, die auf Seiten der Übergangsregierung kämpfen, haben in dem derzeitigen Klima der Straffreiheit keine Konsequenzen zu befürchten. Unabhängige Untersuchungen zu den Massakern an islamistischen Demonstranten während der vergangenen Monate gibt es nicht.
Trotzdem wollen die Islamisten nicht klein beigeben. Vielen geht es nicht mehr darum, die gestürzte Regierung um Präsident Mursi zurückzubringen. Stattdessen setzten sie alles daran, den neuen Machthabern Steine in den Weg zu legen.
Mahmud, ein langjähriges Mitglied der Muslimbruderschaft, hofft, dass die anhaltenden Demonstrationen die Wirtschaft in die Knie zwingen werden – und die Bevölkerung dies der neuen Regierung anlastet. "Ich persönlich glaube, dass der Armeeputsch durch die schlechte wirtschaftliche Lage besiegt wird. Ähnlich, wie es bereits einmal in der Türkei geschehen ist", sagt er.
Offenbar sind die Muslimbrüder bereit, für dieses Ziel auch weiterhin schwere Verluste in den eigenen Reihen hinzunehmen: Bereits für Freitag haben sie zu neuen landesweiten Demonstrationen aufgerufen.