Zunehmende Gewalt gegen Migranten in Russland
6. September 2019Für Derja (Name von der Redaktion geändert) ist es ein Tag wie jeder andere. Sie verlässt ihre Arbeit in einer Bäckerei im Moskauer Vororts Schtscholkowo. Zu Hause warten die kleinen Söhne der alleinerziehenden Tadschikin, die vor einigen Jahren nach Russland einwanderte. Es ist März und auf den Straßen liegt Schnee. Derja hält an einem Supermarkt. Sie ahnt nicht, dass sie kurz darauf Opfer eines brutalen Angriffs werden wird.
Einige Monate später erinnert sich Derja in einem Café. "Als ich das Geschäft betrat, erkannte mich die Verkäuferin", erzählt sie. "Mein Sohn war Monate zuvor ins Krankenhaus eingeliefert worden", erklärt Derja. "Er hatte einen Joghurt gegessen, den man uns verkauft hatte, obwohl er schon abgelaufen war." Der Filialleiter des Supermarktes hatte daraufhin die diensthabende Verkäuferin dafür verantwortlich gemacht.
Und die habe jetzt sofort damit angefangen, Derja zu beschimpfen. "Warum kommen diese Tadschiken in unser Geschäft? Das sind doch alles Diebe!", habe sie Derja zugerufen - und danach eine Beleidigung nach der anderen ausgestoßen. Derja habe zunächst die Verkäuferin ignoriert. "Dann drohte sie mir damit, dass ihr Mann bei der Kriminalpolizei arbeite. Sie sagte, er würde für meine Abschiebung sorgen", erinnert sie sich.
Die Verkäuferin geht auf Derja los. Sie schlägt mit einem Barcodescanner auf Derjas Kopf ein, bis die Tadschikin zu Boden fällt. Die Verkäuferin tritt sie mehre Male in den Bauch. Keiner der Ladenkunden kommt ihr zur Hilfe.
Als Derja zu sich kommt, ist ihr schwindelig. Aus ihrem Auge läuft Blut. Sie verlässt den Laden, legt Schnee auf ihr geschwollenes Gesicht und ruft die Polizei.
Fremdenfeindlichkeit steigt mit Zukunftsängsten
Fremdenfeindliche Einstellungen nehmen in Russland wieder zu. Etwa jeder vierte Russe unterstütze den Gedanken "Russland den Russen", ermittelte 2018 eine Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada. Diskriminierende Wohnungsanzeigen wie "Wohnung nur an russische Familien zu vermieten" sind weit verbreitet. Mehr als ein Drittel der Befragten steht solchen Annoncen positiv gegenüber. Darüber hinaus finden rund zwei Drittel der befragten Russen, die Regierung sollte den Zuzug von Migranten stärker einschränken.
Karina Pipia, Soziologin im Lewada-Institut, erklärt, die russische Bevölkerung sei verunsichert durch die wirtschaftliche Schieflage, die Rentenreform und die damit einhergehende Schwächung des Sozialstaates. Diese "kollektive Irritation" würden sie in Form von Fremdenfeindlichkeit auf Migranten projizieren.
In Zeiten wirtschaftlicher Stagnation und wachsender Zukunftsängste seien viele Russen der Meinung, Migranten würden ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Dabei verrichten Gastarbeiter in Russland heute häufig schwere Arbeiten für einen niedrigen Lohn, für die sich nicht ausreichend Russen finden.
Verlässliche Zahlen zu fremdenfeindlichen Gewaltstraftaten gibt es in Russland nur wenige. Bei gemeldeten Verbrechen gegen Migranten weigert sich die Polizei häufig, Strafverfahren einzuleiten. Die Richter entscheidet in den meisten Fällen dagegen, die Gewalttat als Hassverbrechen einzustufen und verhängt dann mildere Urteile.
Widersprüchliche Signale: der Kreml will Migranten anziehen
Knapp jeder Zwölfte in Russland ist Einwanderer. Mit mehr als elf Millionen Migranten ist Russland damit nach den USA und Deutschland das zahlenmäßig einwanderungsstärkste Land. Die meisten Einwanderer kommen aus ehemaligen Staaten der Sowjetunion: der Ukraine, Usbekistan und Tadschikistan.
Derja ist eine von ihnen. 2015 wanderte sie aus Tadschikistan nach Russland aus. Wie so viele Migranten wollte sie sich und ihrer Familie ein besseres Leben ermöglichen. Die studierte Gynäkologin und Juristin fand erst Arbeit in einem Krankenhaus und dann, nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, in einer Bäckerei.
Um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten, braucht Russland Einwanderer. 2018 starben zum ersten Mal in diesem Jahrzehnt wieder mehr Menschen als geboren wurden. Um den Bevölkerungsrückgang auszugleichen, benötigt Russland Schätzungen zufolge jedes Jahr mindestens 300.000 Einwanderer.
Die russische Regierung aber sendet in ihrer Migrationspolitik widersprüchliche Signale. So beschuldigte die russische Vize-Premierministerin Olga Golodets 2017 Einwanderer, Russlands wirtschaftliche Entwicklung zu untergraben. Sie seien zu niedrig qualifiziert und wären mit ihren Familien eine Last für das Sozialsystem. Auf der anderen Seite unterschrieb Präsident Wladimir Putin Ende 2018 ein Dekret, welches vorsieht, bis zu zehn Millionen russischsprachige Migranten bis 2025 nach Russland zu holen.
"Ohne gesellschaftliche Unterstützung auf der Straße gelandet"
Im Falle Derjas halfen die lokalen Behörden der tadschikischen Migrantin nicht. "Als die Polizisten am Supermarkt eintrafen, drohten sie, mich abzuschieben und meine Kinder in ein Waisenhaus zu geben. Als Migrantin hätte ich kein Recht, mich zu beschweren", erinnert sich Derja. "Ich wurde hart angegriffen. Als ich selbst zum Krankenhaus fahren wollte, wiesen mich die Polizisten an, den Ärzten zu sagen, ich sei gefallen."
20 Tage verbrachte Derja im Krankenhaus. Auf Röntgenbildern sieht man Brüche im Schädel. Aufgrund einer Hirnverletzung ist ihre Sicht auf einem Auge schlechter geworden. "Mir ist häufig schwindelig", sagt sie noch Monate nach dem Angriff. "Arbeiten kann ich bis heute nicht."
Die Polizei gibt ihren Fall nicht an die Staatsanwaltschaft weiter. Stattdessen wird gegen Derja selbst ein Strafverfahren eingeleitet. Sie soll aufgrund von angeblich ungültigen Registrierungspapieren aus Russland ausgewiesen werden.
Auf den Fall aufmerksam geworden, schaltet sich die russische NGO "Bürgerhilfe" ein. Sie stellt Derja einen Anwalt und verhindert ihre Ausweisung. Schließlich kommt im Mai auch die Verkäuferin vor Gericht. Sie wird aufgrund einer "Schlägerei" verurteilt und muss dem russischen Staat eine Strafe zahlen - umgerechnet weniger als 100 Euro. Derja geht in Berufung. Das Verfahren läuft noch.
"Russische Behörden verweigern Migranten ihre fundamentalen Menschenrechte", heißt es in einem Expertenbericht des "Foreign Policy Center". Stattdessen würde die bestehende Gesetzgebung den Missbrauch durch Behörden für politische Zwecke oder Korruption fördern.
Auch Derja findet, dass der russische Staat sie im Stich gelassen hat. "Ohne gesellschaftliche Unterstützung wäre ich vielleicht auf der Straße gelandet", sagt sie.
Aufgrund des geringen Strafmaßes drohte ihr im Mai, ihre Arzt-, Miet- und Lebenshaltungskosten nicht begleichen zu können. Daraufhin startete die NGO "Bürgerhilfe" einen Spendenaufruf. Viele Menschen kamen diesem nach, und innerhalb von fünf Tagen kam die benötigte Summe zusammen.
"Was, wenn ich gestorben wäre?", fragt Deja. "Vor Gericht kämpfe ich für meine eigene Gerechtigkeit. Die Leute sollen lernen zu verstehen, dass Migranten auch Menschen sind."