Getriebene zwischen den Fronten
18. Juni 2014Der Shar Park im Zentrum der kurdischen Regionalhauptstadt Erbil im Irak: In der Mitte plätschern Springbrunnen, an heißen Sommerabenden verbreiten sie eine kühle Brise. Der Park liegt am Fuße der historischen Zitadelle von Erbil, gleich gegenüber des großen Bazars, und ist bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt. Am Rande des Parks verkaufen die Händler bis in den späten Abend Gebetsketten und Modeschmuck - die Männer sitzen in den umliegenden Teehäusern versammelt, an den Kebap-Buden herrscht großer Andrang.
In diesen Tagen geht es im Park noch umtriebiger zu als sonst - Dutzende Familien mischen sich ins allabendliche Getümmel. "Es fällt auf, dass diese Menschen nicht von hier sind", sagt der Einheimische Sardar Mohammed, "Kurden kommen abends nicht mit der Familie hierher, das sind eher die Fremden, die die Zitadelle und den Bazar sehen wollen." Die vielen Neuankömmlinge - Männer, Frauen, Kinder - sorgen fast für eine Art Volksfeststimmung. Doch sie sind nicht die üblichen Touristen. Die meisten sind Vertriebene im eigenen Land, geflohen vor der Welle der Gewalt, die sich in großen Teilen des Irak ausbreitet.
"Ich rechne mit dem Schlimmsten"
Seit die nordirakische Stadt Mossul am vergangenen Montag (09.06.2014) in die Hände der Terrorgruppe ISIS fiel, haben sich viele der Einwohner auf den Weg in die benachbarte Region Kurdistan gemacht - getrieben von der Angst, dass die irakische Regierung mit Bombenangriffen auf die ISIS-Kämpfer in ihrer Stadt beginnt. 320.000 Flüchtlinge sollen es aus Mossul sein, dazu kommt eine bislang unbestätigte Anzahl an Menschen aus Samarra, Tikrit und anderen Orten, die ebenfalls von den Terroristen eingenommen worden sind. Es ist der Höhepunkt der Gewalt im Irak in den vergangenen Jahren.
Am Grenzübergang Kazir, zwischen Erbil und Mossul gelegen, bestimmen seit einigen Tagen lange Autokolonnen das Bild. Viele überqueren die Grenze auch zu Fuß, mit ihren Kindern und wenigen Habseligkeiten im Gepäck. Einer der Wartenden ist Bashar, am zweiten Tag des Flüchtlingszustroms sitzt er mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern in seinem Auto am Checkpoint. "Ich rechne mit dem Schlimmsten", sagt er, "mit Bombenangriffen und mehr. Meine Kinder fürchten sich sehr. Letztes Jahr hat eine Bombe unser Auto getroffen, meine Frau wurde verletzt - seither leben wir in Angst." Manche Familien sind auf dem Weg zu den Flüchtlingslagern, die die kurdische Regionalregierung mit Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks eilig aufgebaut hat. Doch die meisten kommen in Hotels unter, oder bei Familienangehörigen und Freunden in der Region Kurdistan.
Wer es sich leisten kann, flieht
Eine der Familien, die abends im Shar Park unterwegs sind, kommt aus Samarra in der Provinz Salahaddin. Mehrere Tage lang gab es dort blutige Kämpfe zwischen der ISIS und den irakischen Streitkräften. "Die Situation ist schlimm", berichtet der Familienvater, der seinen Namen nicht nennen möchte. "Wegen der vielen Angriffe sind wir geflohen." Mit ihm in Erbil sind seine Mutter, eine Tante, eine Cousine und acht Kinder - das älteste neun Jahre, das jüngste 18 Monate alt.
Die Kinder sind makellos gekleidet und artig. Sie wirken wie auf einem Familienausflug, weniger wie Flüchtlinge in Furcht um ihr Leben. Eines der Mädchen, mit Pony und großen braunen Augen, trägt eine weiße Blume im Haar, passend zu ihrem feinen Kleid. Ihre Mutter packt Schokolade für die Kleinen aus, während der Vater von ihrer Lage erzählt: "Ich bin mit meiner Familie bei Freunden untergekommen und hoffe, dass wir bald zurückgehen können. Erbil ist eine teure Stadt. Und ich bin kein Regierungsangestellter mit einem festen Gehalt, ich bin Maler. Wenn ich nicht arbeite, habe ich kein Einkommen." Er schätzt, dass die Hälfte der Bevölkerung Samaras geflohen ist - zurückgeblieben seien vor allem diejenigen, die sich die Flucht nicht leisten können.
Zurück zur Normalität - mit der Scharia
In Mossul haben die Kämpfe inzwischen aufgehört; UN-Berichten zufolge kehren die ersten Familien wieder zurück. Auch die Bewohner, die geblieben waren, berichten, die Stadt kehre langsam zur Normalität zurück - allerdings unter der von den ISIS-Kämpfern errichteten Scharia, dem islamischen Recht. Von manchen Irakern ist zu hören, dass die Situation nun besser sei als während der Anwesenheit der irakischen Armee.
"Sie haben alle Sicherheitskontrollpunkte im Stadtzentrum abgeschafft - man kann sich jetzt völlig frei in den Straßen bewegen", berichtete der Journalist Mohammed Umar Al-Qasi nach der Rückkehr in seine Heimat Mossul. "Ich fuhr mit dem Taxi vom Flughafen zu meiner Wohnung. Als die Armee noch hier war, dauerte das eine halbe Stunde, weil man durch sieben Kontrollpunkte musste. Dieses Mal brauchte ich nur fünf Minuten - es gab lediglich zwei Kontrollen, aber da fragten sie mich nur, wo ich herkomme und wohin ich fahre. Sie haben nicht einmal nach meinem Pass gefragt."
Bevölkerung in Angst vor Vergeltungsakten
Anders ist die Situation in Samarra: Dort gibt es immer noch Zusammenstöße zwischen der ISIS und der irakischen Armee. Die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung fürchtet nicht nur Luftangriffe des irakischen Militärs, sondern auch Vergeltungsakte der schiitischen Milizen, die sich in die Stadt einschleusen. Sie wollen der Armee Rückendeckung geben und die Al-Askari-Moschee beschützen, eines der größten Heiligtümer der Schiiten im Irak.
Die Angst vor den schiitischen Milizen erklärt sich, wenn man Geschichten wie diese hört: "Sie haben drei meiner Familienangehörigen getötet", sagt eine Frau in Samarra und wickelt ihren Schal enger um sich. "Meinen Mann und meinen Sohn haben sie vor zwei Jahren in Bagdad festgenommen, und wir haben sie nie wiedergesehen." Am selben Tag sei in Samarra ihre Tochter umgekommen, bei einem Raketeneinschlag in das Gebäude, in dem sie sich befand. "Wir haben Angst", sagt die Frau im Weggehen, "aber wir werden hier in Samarra bleiben. Wo könnten wir denn sonst hingehen?"