Russlands Schulen lehren Patriotismus
13. November 2022Mit sogenannten "Gesprächen über Wichtiges" beginnt in russischen Schulen seit zwei Monaten jede neue Unterrichtswoche. Auch das Hissen der russischen Flagge ist seit dem 1. September vorgeschrieben. Die Themen der Gespräche gibt das Bildungsministerium vor. Viele sind offiziellen Feiertagen gewidmet - dem Muttertag, dem Vatertag oder dem Tag der älteren Generation. Aber am Tag des Lehrers zum Beispiel wurde angeordnet, den Schulkindern zu erklären, warum die Besatzung ukrainischen Territoriums durch russische Truppen eine "historische Gerechtigkeit" sei - es handele sich dabei um "ursprünglich russische Gebiete".
Den Schulkindern wird oft von der Ukraine erzählt. Mark (Name geändert) geht in St. Petersburg zur Schule. Er sagt, beim Thema Terrorismus hätten der Direktor und Lehrer erzählt, die Ukraine verübe Anschläge. "Eigentlich sollten wir während der Unterrichtsstunde lernen, wie man sich im Falle eines Terroraktes verhält", so Mark. Und ein Gymnasiast aus Kaliningrad sagt, Ende Oktober habe der Leiter seiner Schule während der Patriotismus-Stunde erzählt, "Russland wird ständig von irgendwem angegriffen und alle wollen das Land vernichten".
Nach verpasstem Unterricht zum Verhör
Eltern, die ihre Kinder vor einem solchen Unterricht bewahren wollen, können Probleme bekommen. Eine Meldung beim Jugendamt und psychologische Zwangsberatung in einer staatlichen Stelle - das erlebte die Familie der zehnjährigen Warja Scholiker, weil sie in einer Moskauer Schule den "Gesprächen über Wichtiges" fernblieb.
Deswegen habe eine Kommission in der Schule über das Verhalten ihrer Tochter beraten, so Jelena Scholiker. Ein Vertreter der Schulleitung, ein Psychologe und ein Mann, der vermutlich zum Inlandsgeheimdienst FSB gehörte, sagten ihr, sie seien darüber besorgt, dass Warja nicht an den "Gesprächen über Wichtiges" teilnehme. Außerdem zeige sie bei WhatsApp die sogenannte Saint Javelin, ein Internet-Meme im Stil einer Heiligen, die vor den ukrainischen Nationalfarben Blau-Gelb ein Panzerabwehrsystem in Händen hält, das in der Ukraine gegen die russischen Invasoren eingesetzt wird.
Nach den Befragungen in der Schule und bei der Polizei kamen Inspektoren, um die Wohnung der Familie zu durchsuchen. In ihrem Bericht wiesen sie auf "verdächtige Farben" in der Einrichtung hin. "Auf dem Laptop von Jelena Scholiker wurde festgestellt, dass extremistische Kanäle angeschaut wurden, wofür die Mutter keine Erklärung hat. Im Inneren der Wohnung gibt es blaue und gelbe Farben. Laut Jelena Scholiker gefällt ihr dieses Farbspektrum", heißt es in dem Papier.
Die Inspektoren kamen zu dem Schluss, dass Jelena "ihre politischen Ansichten auf ihre Tochter projiziert und keine elterliche Kontrolle über Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken ausübt". Das Saint-Javelin-Meme zeige, dass dem zehnjährigen Mädchen "Kenntnisse der Geschichte ihrer Heimat sowie der politischen Orientierung ihres Landes und der Welt fehlen". Die Prüfer schrieben der Mutter und der Tochter psychologische Beratung vor.
Schwierige Entscheidung für Lehrer
Die Patriotismus-Lektionen stellen aber nicht nur die Eltern, sondern auch Lehrer vor eine schwierige Entscheidung. "Während es früher nur vereinzelt Fälle von Verfolgung von Lehrern wegen Äußerungen in sozialen Netzwerken und Teilnahme an Kundgebungen gab, ist dies jetzt offenbar institutionalisiert. Propaganda-Lektionen werden jetzt systematisch verordnet und zwingen die Menschen zu entscheiden, ob sie an ihnen teilnehmen oder nicht", sagt Daniil Ken, Vorsitzender der russischen Allianz der Lehrer. Ken selbst wurde im September von den Behörden als "ausländischer Agent" eingestuft.
Die Allianz der Lehrer verteidigt die Moskauer Lehrerin Tatjana Tscherwenko vor Gericht. Sie hatte sich geweigert, "Gespräche über Wichtiges" durchzuführen und hatte zudem ein Interview im Fernsehsender Doschd gegeben, der inzwischen aus Lettland sendet, sich aber an Zuschauer in und aus Russland richtet. Das hatte ihr eine Rüge der Schulleitung eingebracht, die sie anficht. Tatjana unterrichtet weiterhin an der Schule, aber Daniil Ken vermutet, dass man sie entlassen wird.
Lieber Exil als Ideologie
Mit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses endete ein langer Streit zwischen dem Geschichtslehrer Rauschan Waliullin und der Leitung einer Schule in Nabereschnyje Tschelny, einer Großstadt in der russischen Teilrepublik Tatarstan. Im August musste Rauschan zu einer Lehrerbesprechung zum Thema "Besonderheiten der ideologischen Bildungsarbeit mit Kindern und Pädagogen". Zur ideologischen Bildungsarbeit zählen auch die "Gespräche über Wichtiges".
Rauschan kritisierte die Einmischung des Staates in seine Arbeit als Verstoß gegen Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation, der eine Zwangsideologie verbietet. Wenig später wurde Rauschan gekündigt. Vor Gericht konnte Rauschan beweisen, dass die Entlassung rechtswidrig war und er hätte wieder als Lehrer eingesetzt werden müssen.
Doch Rauschan hatte das Urteil nicht abgewartet. Eine Rückkehr an die Schule konnte er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Er wäre dort verpflichtet worden, "Gespräche über Wichtiges" zu führen, und ihm wurde gedroht, in seinem Büro eine Kamera zu installieren, um seine Aussagen zu überwachen. Er entschied, nach Kirgisistan zu ziehen: "Alle Äußerungen gegen den Krieg sind verboten. Ich habe mehrere Kinder und muss verantwortungsvoll handeln."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk