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Politik

Gegenbesuch: Ein Lehrer auf Weltreise

3. März 2019

Jan Kammann wollte erleben, woher seine Schüler kommen: Er trank Macchiato im Kosovo, traf afghanische Kinder im Iran, suchte Schulkinder in Ghana, lernte Kochen in Südkorea und besuchte den Schwarzwald Nicaraguas.

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Ghana l "Ein deutsches Klassenzimmer" von Jan Kammann
Bild: Jan Kammann

Was muss man über Jan Kammann wissen? Er lacht und überlegt kurz: "Dass ich der Welt sehr aufgeschlossen gegenüberstehe. Da habe ich jeden Tag sehr viel Spaß dran, Menschen kennenzulernen und deren Umstände zu verstehen." Kleine Pause. "Und auch mal einen Witz reißen" - er lacht wieder.

Seit sechs Jahren unterrichtet der 39-Jährige Englisch und Erdkunde am Gymnasium Hamm in Hamburg. Die Europaschule mit dem Leitgedanken "In Vielfalt geeint" hat Schülerinnen und Schüler aus aller Welt. Sie und ihre Eltern kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Deutschland: als Flüchtlinge oder Studierende, weil die Eltern in Deutschland arbeiten oder weil die Kinder in Hamburg eine bekannte Ballettschule besuchen.

Der deutsche Lehrer Jan Kammann hat die Heimatländer seiner Schüler besucht
Bild: Jan Kammann und Luisa Wolff

Wenn sie ankommen in seiner Schule, erzählt Jan Kammann, stehen sie am Empfangstresen: "Weder Eltern noch Schüler sprechen ein Wort Deutsch. Sie müssen sich ausliefern." Man denke oft im deutschen Alltagsstress, sich zu integrieren sei ganz einfach, aber in anderen Ländern sei eben vieles ganz anders. Um seine Schüler besser zu verstehen, ließ Kammann sich beurlauben und reiste ein Jahr lang durch ihre Heimatländer in Europa, Asien, Lateinamerika und Afrika. Er hat darüber ein Buch geschrieben: "Ein deutsches Klassenzimmer. 30 Schüler, 22 Nationen, 14 Länder und ein Lehrer auf Weltreise".

Bulgarien: Wenig Wertschätzung im Ausland

Eine Schülerin kam nach den Ferien bei der Familie in Bulgarien erst Tage später in die Schule, erzählt Jan Kammann. Das liege an der langen Busfahrt, sagte sie. In den Sommerferien stieg ihr Lehrer selbst in den Bus und wunderte sich, wie ewig der unterwegs war. Überall in Deutschland sammelt er Menschen aus Bulgarien ein, die als Erntehelfer arbeiten, auf Baustellen oder in der Pflege. Menschen, die viele Deutsche gar nicht so bewusst wahrnehmen, sagt Kammann: "Wahrscheinlich würde unsere Volkswirtschaft ohne sie gar nicht funktionieren."

Bulgarien - Deutscher Lehrer Jan Kammann, Autor "Ein deutsches Klassenzimmer", hat die Heimatländer seiner Schüler besucht
Bushaltestelle nahe der ungarisch-bulgarischen Grenze - viele Bulgaren leisten wichtige Arbeit in Deutschland Bild: Jan Kammann

Nach zwei Tagen Fahrt mit Pannenpause kam er völlig erschöpft in der Hauptstadt Sofia an - seine Schülerin musste von hier aus noch fast 500 Kilometer weiterreisen. Von einer bulgarischen Lehrerin erfuhr Kammann, dass der Großteil der Absolventen ihr Land verlässt. Ihnen werde im Ausland wenig Wertschätzung entgegengebracht.

Kosovo: Nicht nur das Negative sehen

Lehrer reist in Heimatländer seiner Schüler

Krieg im Kosovo, Korruption und Krisen, davon hatte Jan Kammann viel gehört. Typisch, man kenne nur die unschönen Themen, sagt er. Überrascht las er in seinem persönlichen Schüler-Reiseführer ganz andere Dinge über das kleine Land. So gebe es im Kosovo den besten Macchiato der Welt, das Heißgetränk, das die meisten nur mit Italien verbinden. Jan Kammann hat er hervorragend geschmeckt. Auch touristisch sei der Kosovo überaus lohnend mit Ski- und Klettergebieten und großer Gastfreundschaft, sagt er. Er will auf jeden Fall wieder hin.

Russland: Aussöhnung muss weitergehen

Jan Kammann motiviert seine internationalen Schüler regelmäßig zu "Newsflashs", in denen sie aus den Medien ihrer Heimat berichten. Seine russische Schülerin referierte über eine "faschistische Intervention" Europas in der Ukraine. Sie sprachen in der Klasse über Faschismus und die vielen russischen Opfer der deutschen Angreifer im Zweiten Weltkrieg.

Russland "Ein deutsches Klassenzimmer" von Jan Kammann
Bei der Ankunft im sibirischen Ulan-Ude ratterte ein langer Zug mit militärischem Gerät an Jan Kammann vorbeiBild: Luisa Wolff

Bei seinem Besuch in Russland besuchte er eine deutsch-russische Ausstellung, in der Tondokumente beider Seiten aus dem Krieg zu hören waren. Er hörte, wie deutsche Soldaten zynisch die Morde an Zivilisten schilderten. Aussöhnung funktioniere nur gemeinsam, sagt Jan Kammann, man müsse dranbleiben. Wenn seine Oma davon gesprochen habe, dass "der Russe kommt", habe sie das auch nicht positiv gemeint. Ein schweres Thema - er habe aber auch sehr schöne Begegnungen in Russland gehabt, unter anderem bei einer langen Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn.

Iran/Afghanistan: Shabanas Frage

"Gibt es eine Möglichkeit, dass ich nach Deutschland komme?" Diese Frage stellte die 19-jährige Shabana Jan Kammann. Sie war die beste Schülerin bei den "Seekers of Knowledge", einer Initiative von Iranern. Sie unterrichten am Rande Teherans afghanische Flüchtlingskinder, die nicht an staatlichen Schulen unterkommen. Shabana wollte Ärztin werden, sah im Iran aber keine Chance. Kammann konnte ihr keinen Ausweg nennen. Ihre Perspektivlosigkeit, die sie mit vielen jungen Menschen teilt, belastet ihn bis heute. Seine eigene Reise, sagt der Deutsche, sei reines Glück: "Ich fühle mich sehr, sehr privilegiert, dass ich hier geboren wurde."

Iran - "Ein deutsches Klassenzimmer" von Jan Kammann
Im Iran sprach Jan Kammann auch mit dem Leiter einer Koranschule, der zugleich Rechtsgutachter und Richter istBild: Jan Kammann

Bei vielen Gesprächen mit Iranern sei ihm klar geworden, wie eurozentristisch sein eigener Blick ist. Ein iranischer Soziologe, der auch die europäische Kulturgeschichte gut kennt, fragte ihn nach iranischen Geistesgrößen. Kammann musste passen. Er beschloss, mehr aus anderen Kulturen zu lernen und in seinen Unterricht zu integrieren.

Südkorea: Vorsicht beim Lachen

Kammanns Schülerin aus Südkorea kam nach Hamburg, um hier eine Ballettschule zu besuchen. Ihrem Lehrer war aufgefallen, dass sie sich nicht wohlfühlte, wenn die Schüler lautstark Klassenkonflikte diskutierten. Bei seinem Aufenthalt in Südkorea erkannte er, wie viel vorsichtiger man dort miteinander umgeht.In einem Restaurant alberte er herum und lachte laut, berichtet er. Später sei ihm klar geworden, dass man das als Kritik am Kellner oder den Speisen verstehen könnte - das tat ihm leid. Dabei hat er die Vielfalt der koreanischen Küche sehr genossen und sogar einen Kochkurs absolviert. Essen fördert Kommunikation, er fragt auch seine Schüler in Hamburg nach Spezialitäten ihrer Heimat.

Südkorea "Ein deutsches Klassenzimmer" von Jan Kammann
In Südkorea hat Jan Kammann die Geschmacksvielfalt der Speisen fasziniert und der respektvolle Umgang miteinanderBild: Luisa Wolff

Nicaragua: Ricardo empfiehlt den Schwarzwald

Dass sein Lehrer nach Nicaragua reisen wollte, fand er klasse, sagt Ricardo der Deutschen Welle. Er wollte nach der 10. Klasse auch wieder in seine Geburtsstadt Managua reisen und Jan Kammann durchs Land führen. Seine Eltern waren mit ihm nach Hamburg gekommen, um in Agrarwissenschaften zu promovieren. Doch Ricardo erkrankte an Leukämie.

Sein Geografie-Lehrer besuchte ihn im Krankenhaus - mit einer Landkarte. Es ist ihm wichtig, von seinen Schülern zu lernen. Ricardo empfahl ihm, die Vulkanlandschaften zu erkunden und riet ihm, den einzigen Ort Nicaraguas zu besuchen, "wo Enten auf einem See schwimmen - wie in Deutschland". Es ist der "Selva Negra", der schwarze Wald. Einwanderer aus dem deutschen Schwarzwald kamen im 19. Jahrhundert hierher und bauten im tropischen Wald Kaffee an.Im Zweiten Weltkrieg wurden sie verhaftet - nur weil sie Deutsche waren. "Man darf Menschen nicht in einen Topf werfen", warnt Jan Kammann. Die Gefahr sieht er auch in Deutschland, etwa wenn arabische oder muslimische Jugendliche pauschal unter Terrorverdacht gestellt werden.

Nicaragua "Ein deutsches Klassenzimmer" von Jan Kammann
Kleine Pause für Arbeiter einer Kaffeeplantage - ohne die handgepflückten Bohnen ginge in deutschen Lehrerzimmern wenig Bild: Jan Kammann

Ricardo kennt mittlerweile auch den deutschen Schwarzwald, wo er sich nach seiner Erkrankung erholte. Jetzt macht er sein Abitur nach. Er hat festgestellt, dass viele Deutsche wenig über Lateinamerika wissen - Jan Kammann ist eine Ausnahme.

Ghana: Jeffrey rät zur Nachhilfe in Kolonialgeschichte

Jan Kammanns Schüler Jeffrey wurde in Ghanas Hauptstadt Accra geboren. Er freute sich sehr, dass sein Lehrer in seine Heimat und die seiner Mitschüler reiste. "Ich kenne keinen Lehrer wie ihn, der so etwas macht", sagt der heute 19-Jährige im DW-Interview. Er ärgert sich darüber, dass Afrika in Deutschland so oft verallgemeinert wird. Jedes Land sei verschieden, im Schulunterricht höre man viel zu wenig darüber. Mittlerweile hat Jeffrey Abitur. Er dolmetscht für Ausländerbehörden die ghanaische Sprache Twi. Im Herbst beginnt sein Studium des internationalen Rechts. Außerdem träumt er seit früher Kindheit davon, sich als Pilot ausbilden zu lassen. Noch fehlt ihm das Geld dafür.

Ghana l "Ein deutsches Klassenzimmer" von Jan Kammann
In Cape Coast besuchte Jan Kammann ein Museum zur Geschichte der Sklaverei - abends kickte er mit den KindernBild: Jan Kammann

Jan Kammann hatte er empfohlen, sich in Ghana über den Sklavenhandel zu informieren. In Cape Coast besuchte der ein Museum und erfuhr, wie Kolonialmächte erst Gold und Tropenholz und schließlich Menschen aus Westafrika als Sklaven verschleppten. Die Grausamkeit erschütterte Jan Kammann. Gut getan haben ihm Gespräche mit Mary Dennis. Sie setzt sich für Kinder ein, die in der Schule fehlen. Kammann lief viele Kilometer mit ihr von Haus zu Haus. "Slow, slow, small, small", lautet ihr Motto. An ihrer Geduld will sich der deutsche Lehrer ein Beispiel nehmen.

Integration im Klassenzimmer

"Interessant und bereichernd" nennt Stefan Behlau den Ansatz von Jan Kammann, aber sehr zeitintensiv und damit angesichts des Lehrermangels kaum übertragbar. Behlau leitet den Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-Westfalen (NRW). 35 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in NRW haben eine Zuwanderungsgeschichte.

Int. Jan Kammann - MP3-Stereo

"Hätten wir ausreichend Personal und Zeit, wäre Integration in der Schule längst kein Politikum mehr", sagt Behlau. Er wünscht sich mehr Sprachkurse und betont: "Wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Ausgangslage der Schülerinnen und Schüler, nicht nur für die Frage der kulturellen und sprachlichen, sondern auch für die Frage der sozialen Integration."

Weitere Weltreisen nicht ausgeschlossen

Seit seiner Reise, sagt Jan Kammann, respektiere er seine Schüler noch mehr - für ihre Leistungen beim Deutschlernen und der Anpassung an eine neue Kultur. Hätten seine Eltern ihn als Jugendlichen in ein anderes Land gebracht, "ich wäre kolossal gescheitert", vermutet er, er sei damals ein schlechter Schüler gewesen. Mit seinem deutschen Pass fühle er sich sehr privilegiert. Mitgebracht von der Reise hat er viele Fragen zu Armut und Reichtum, Handel und Gerechtigkeit, die in seinen Unterricht einfließen.

Die wichtigste Reise im vergangenen Jahr führte ihn in den Kreißsaal: Seit gut drei Monaten dreht sich bei ihm und seiner Freundin alles um die kleine Tochter. Er kann sich aber gut vorstellen, erneut in die Heimatländer seiner Schüler zu reisen: "Ich habe Reiseführer aus 45 Ländern - Stoff für viele Weltreisen."