"Ein wenig Leben" ist da
30. Januar 2017Es soll um eine Männerfreundschaft gehen, heißt es im Klappentext. Ja, darum geht es auch. Aber noch mehr geht es um Liebe, bedingungslos, tief und aufopfernd. Es soll ein New York-Roman sein, heißt es - nun, bedingt. New York, genauer gesagt Manhattan, ist die dankbare, immer gleich bleibende Kulisse für eine Story, die vier Männer unterschiedlicher Herkunft durch mehrere Jahrzehnte begleitet. Die Geschichte ist kein Pendant zur US-Serie "Sex and the City", in der vier Frauen so lange durch New Yorks Betten ziehen, bis sie jeweils ihren Traummann gefunden haben. Nein, "Ein wenig Leben" ist weder lustig, noch sprühend und glitzernd - und wenn es um Sex geht, ist es eher verstörend. Doch von vorne.
Vier Charaktere - eine Hauptfigur
Vier lebenslustige junge Kerle lernen sich im College kennen, teilen sich eine enge Studentenbude und gehen später nach New York, stürzen sich mittenrein in die pulsierende Künstlerszene, um dort Karriere zu machen. Alle krebsen zunächst herum, der Schauspieler Willem muss kellnern, der Maler JB arbeitet bei einer Kunstzeitung, der Architekt Malcolm will seinem ehrgeizigen Vater zeigen, dass er es auch zu was bringen kann. Der Vierte ist Anwalt, smart, schön, eloquent und beliebt. Jude ist der einzige, der ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt. Er leidet unter Schmerzattacken und ritzt sich. Seine Freunde ahnen, dass es da etwas gibt in Judes Vergangenheit. Doch er spricht nicht darüber.
Schnell stellt sich heraus, dass Jude die Hauptrolle im Roman spielt, er ist der düstere Mittelpunkt, um den sich seine Freunde wie Satelliten drehen, und dem einige von ihnen gefährlich nahe kommen. Denn wer Jude zu nahe kommt, ist dessen Horror ausgeliefert. Weil Jude das weiß, will er sich selbst seinen engsten und vertrautesten Freunden nicht öffnen und pflegt manisch seinen Selbsthass. Er verbietet es sich, glücklich zu sein und ist der festen Überzeugung, dass er ein schlechter Mensch sei und keine Liebe verdiene. Er fügt sich schreckliche Verletzungen zu und hofft damit die Schatten seiner Kindheit zu vertreiben.
Wirklich harter Tobak
Was das für Schatten sind, liefert die Autorin Hanya Yanagihara dem Leser in kleinen - aber auch in großen, teils schwer verdaulichen Happen. Im allgemeinen Kanon der Lobpreisungen ist dies für einige Kritiker ein Grund, das Buch in den Boden zu stampfen: Die Gewaltszenen seien zu verstörend, bedienten eine Art perversen Voyeurismus. Die Schrecken seien zu schrecklich, die schönen Momente zu schön. Erfahrenen Psychothriller-Lesern sei gesagt: Sie haben sicherlich schon Schlimmeres gelesen. Dennoch: die Szenen sind deswegen so unerträglich, weil die Autorin sie uns ohne Mitleid vor die Füße wirft. Oft unerwartet und zuweilen in so grausamer Endlosigkeit, dass man sich wünscht, dass es endlich aufhört. Die Bruchstücke garniert sie mit kleinen dezenten Cliffhängern. So bleiben wir dran und lernen nach und nach die schreckliche Lebensgeschichte von Jude kennen: Als Findelkind neben einer Mülltonne gefunden, im Kloster aufgewachsen und missbraucht, später jahrelang von einem ehemaligen Mönch als Sexsklave gehalten und an Freier verkauft. Als Jugendlicher im Pflegeheim weiter misshandelt und gefoltert. Und schließlich von einem Sadisten auch körperlich zerstört.
Über allem liegt Hochglanz
Dem gegenüber stehen die hellen Momente: Die tiefe Freundschaft, die Aufopferung, die Liebe, alles in einer Hochglanzumgebung aus stylishen Lofts, Ateliers und Kunstgalerien, Sushi-Bars und dekadenten Feriendomizilen. Die vier Freunde machen nämlich Karriere, sind umgeben von glücklichen Menschen und feiern fröhliche Parties. Dass viele Paare schwul sind und Frauen nur am Rande erscheinen, tut dem Gefüge keinen Abbruch.
Der als Kind gehasste und gequälte Jude wird als Erwachsener von allen hingebungsvoll geliebt; selbst wenn er seine engsten Freunde belügt, vergeben sie ihm. Vergebung zieht sich durch die gut 1000 Seiten wie ein roter Faden: Andauernd entschuldigt sich jemand, um als Antwort zu erhalten: "Nein, mir tut es leid"... In solchen Situationen bewegt sich der Roman ganz knapp an der Grenze zur Schmonzette, die Autorin kriegt aber stets rechtzeitig die Kurve. Dennoch treiben viele Szenen dem Leser die Tränen in die Augen - die Gefühlswechselbäder sind zu krass, zu tief ist das Gefälle von den sonnigen Momenten hinab in den schwärzesten Schrecken. Und immer wieder keimt die Hoffnung auf, dass sich Jude aus dem Strudel freistrampelt - bis es noch schlimmer kommt, und schlimmer und schlimmer.
Ein "Lesespaß" ist das nicht
Das klingt nicht unbedingt so, als sollte man dieses Buch lesen und auch in Deutschland zu dem machen, was es bereits in 20 weiteren Ländern ist: Ein Bestseller, der polarisiert. Er ist bestimmt kein Lesevergnügen, denn das hätte ja was mit Spaß zu tun. Was das Buch so lesenswert macht, ist die andauernde Faszination, die es ausübt. Trotz gelegentlicher Schwurbeleien und schier endlosen Bandwurmsätzen geht es so sehr unter die Haut, dass man sich darin verliert, die Uhrzeit vergisst und unbemerkt vier Tafeln Schokolade beim Lesen verdrückt. "Ein wenig Leben" produziert rauschhafte Bilder, setzt den Leser in eine Gefühlsachterbahn, erzeugt tiefe Rührung und unbändige Wut, erschreckt und streichelt. Die wuchtige Geschichte bleibt hängen - und hat den Hype verdient, den sie vor nunmehr zwei Jahren ausgelöst hat.
Hanya Yanagihara erhielt für das Buch bereits den Kirkus Award, kam auf die Shortlist des Man Booker Prize, erhielt den National Book Award und den Baileys Prize. Es ist eines der bestverkauften und meistdiskutierten literarischen Werke der vergangenen Jahre in den USA. Auch eine TV-Serie ist in Vorbereitung.
"Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara, erschienen bei Hanser Berlin, 960 Seiten, 28 Euro