Geflüchtete aus Eritrea: Der lange Arm des Regimes
23. September 2019Kessete Awet musste seine Heimat Eritrea schon in seiner Kindheit verlassen. Vor 34 Jahren flüchtete er mit seinen Eltern über den Sudan nach Deutschland. Während in Eritrea der Bürgerkrieg tobte, ist der heutige Sozialpädagoge mit seiner Familie in Wuppertal heimisch geworden.
Doch seine Herkunft begleitet ihn bis heute: Neben seinem normalen Beruf arbeitet Kessete Awet als Dolmetscher für das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge. Dort wird er täglich Zeuge der Geschichten, die viele seiner Landsleute derzeit zur gefährlichen Flucht aus ihrer Heimat in Ostafrika veranlassen. Jedes Jahr fliehen Zehntausende, um unter anderem in Deutschland Asyl zu beantragen. Sie seien verzweifelt und hätten Angst vor dem diktatorischen Regime in Eritrea, sagt Kessete Awet.
Eritreas Präsident Isaias Afewerki hat zwar 2018 einen Friedensvertrag mit dem Nachbarstaat Äthiopien geschlossen, doch für die meisten Eritreer hat sich dadurch wenig geändert. Besonders für junge Menschen sei es schwierig, sagt Kessete Awet. "Sie werden lebenslänglich zum Militärdienst verpflichtet. Sie haben keine Zukunft und fliehen deshalb." Asylbewerber aus Eritrea seien keine Wirtschaftsflüchtlinge, betont er. "Niemand würde diese Tortur aus wirtschaftlichen Gründen auf sich nehmen." Immer wieder würden Menschen auf der Flucht erschossen oder entführt, vor allem im Transitland Libyen sei die Menschenrechtslage katastrophal. "Es geht darum: Entweder in Eritrea bleiben und sterben oder anderswo ein Stück Leben erhaschen", so Kessete Awet.
Wehrdienst ist Hauptgrund für Flucht
Menschenrechtsorganisationen bestätigen die Notlage: "Eritrea gehört zu den repressivsten Ländern der Welt. Die Hoffnung auf Reformen nach dem Friedenschluss mit Äthiopien sind zerschlagen worden", sagt Laetitia Bader, Eritrea-Expertin bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in Rom. "Politisch Verfolgte landen in schrecklichen Gefangenenlagern, isoliert von ihren Familien", so Bader. "Das ganze System basiert auf Kontrolle der Bevölkerung. Dabei ist der Militärdienst das wirksamste Mittel der Unterdrückung." In Eritrea würden große Teile der Bevölkerung zu Wehr- und Arbeitsdiensten eingezogen – und das für unbestimmte Zeit. Für junge Menschen sei das der Hauptgrund für eine Flucht ins Ausland.
Doch aktuelle Medienberichte nähren Zweifel an den Beweggründen für die Flucht einiger Eritreer. Vor allem ein Fall aus Norwegen sorgte zuletzt international für Aufsehen. Dort war Bildmaterial aufgetaucht, das Angehörige der eritreischen Gemeinschaft in Oslo bei einer Feierlichkeit mit Vertretern des Afewerki-Regimes zeigt. Besonders pikant: Der Anlass der Feier war das 25-jährige Bestehen genau jener Wehrpflicht, die viele Eritreer als Beweggrund für ihre Flucht angeben. Grund genug für die norwegische Regierung, nun die positiven Asylbescheide in 150 Fällen neu zu überprüfen.
Angst vor dem Regime
Wie kann es sein, dass eritreische Geflüchtete eine Feier des eritreischen Regimes besuchen? "Die Regierung in Eritrea hat einen langen Arm der Kontrolle, auch im Ausland", sagt Bader zu den Vorfällen. So könnten sich Flüchtlinge etwa aus Angst vor Vergeltung gegen ihre Familien in der Heimat zum Kontakt mit der eritreischen Regierung genötigt fühlen. Kessete Awet bestätigt, dass auch in Deutschland viele Eritreer in Angst vor dem Regime leben. Von Vorfällen wie in Norwegen habe er aber hierzulande noch nicht gehört. Wer sich, wie in Norwegen, in der Nähe des Regimes zeige, könnte laut Awet auch von Eritrea zu Propagandazwecken "gekauft" sein. "Das ist aber keine nennenswerte Anzahl der Flüchtlinge und steht nicht für die Mehrheit", sagt er.
Der Offenbacher Verein "Connection", der sich für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus aller Welt einsetzt, sieht noch ein weiteres Problem. "Die Praxis des Schutzes in Deutschland sorgt dafür, dass Flüchtlinge dem eritreischen System gerade zugetrieben werden", so der Leiter des Vereins Rudi Friedrich im DW-Interview. Weil die deutschen Behörden eritreischen Geflüchteten häufig Asyl aus humanitären, nicht aber aus politischen Gründen gewähren würden, seien die Eritreer auf die Zusammenarbeit mit ihrer Regierung angewiesen. "Sie erhalten keinen Flüchtlingspass und müssen sich einen Pass beim eritreischen Konsulat in Deutschland ausstellen lassen", so Friedrich. Dafür werde den Flüchtlingen häufig ein Reue-Bekenntnis abverlangt, gleichzeitig fordere das Konsulat eine zweiprozentige Diaspora-Steuer von eritreischen Staatsbürgern im Ausland. "So werden die Flüchtlinge praktisch unter Druck gesetzt, sich gegenüber ihrem Regime gut zu verhalten und das Regime behält den Zugriff auf die eigenen Staatsbürger im Ausland."
Haben die Vorwürfe aus Norwegen Auswirkungen auf die Asylpraxis in Deutschland? Das BAMF schreibt dazu in einer Stellungnahme an DW: "Der Entscheider muss durch gezieltes Nachfragen feststellen, ob ein Vortrag glaubhaft ist oder nicht. Die Asylgründe, die Antragsteller im Rahmen ihrer Anhörung vortragen, werden beim Bundesamt statistisch nicht erfasst. Die Vorträge der Antragsteller sind so vielschichtig, dass es nicht möglich ist, diese auf eine statistische Komponente zu reduzieren." Laut der aktuellen Statistik liegt Eritrea von den zehn zugangsstärksten Herkunftsländern auf Platz neun, Syrien an der Spitze. Die Gesamtschutzquote für Asylsuchende aus Eritrea 72,8%.