Gedenken ist Grundlage
27. Januar 2015Iwan Martynuschkin ist in Russland nicht nur ein Kriegsheld, sondern auch ein Medienheld. In diesen Tagen stehen Reporter Schlange um den Mann, dessen Jackett mit Abzeichen und Orden in allen Farben geschmückt ist, zu interviewen. Dann erzählt der 91-Jährige Veteran mit ruhiger Stimme vom 27. Januar 1945, dem Tag, an dem er mit den sowjetischen Truppen nach Auschwitz kam.
Die Häftlinge, die noch dort waren, "hatten vor Rauch ganz schwarze Gesichter, ausgezehrte, erschöpfte Gesichter, leidende Gesichter. Aber in ihren Augen sahen wir Freude. Wir sahen, dass sie verstanden, dass sie frei waren, dass wir sie befreit hatten. Und dass sie dankbar waren", erzählt der Veteran. Er ist einer der wenigen Befreier von Auschwitz, die heute noch leben.
Moskau gedenkt des Holocausts
Das Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges liegt leicht erhört auf dem Poklonnaya-Hügel im Park des Sieges. Nicht nur der erhabene Blick über die Stadt beeindruckt, auch das Gebäude selbst ist ehrfurchtgebietend. Gedenktafeln und Marmorbüsten erinnern an die Helden. Es ist ein Ort, der zum Frieden aufrufen soll und gleichwohl wird der Sieg stolz inszeniert. Im Museumsladen kann man Kriegsspielzeug kaufen. Überall sind Schlachten nachgestellt.
Hier kommen im ganzen Januar Veteranen und ehemalige Häftlinge zusammen. Sie schildern mit einfachen aber eindringlichen Worten, was sie erlebt haben, die Häftlinge berichten von ihrer Zeit im Konzentrationslager Auschwitz und die Veteranen von den Bildern des Schreckens bei der Befreiung. Kristina Olchowa war eines der Kinder von Auschwitz. “Meine Schwester und ich waren im Konzentrationslager Auschwitz. Manchmal wurde den Kindern Blut abgenommen. Einige sind nie in die Baracke zurückgekehrt”, erzählt sie gefasst.
Niemals vergessen
Für die Befreier der Roten Armee war Auschwitz eine Station des Grauens in ihrem furchtbaren langen Kampf gegen Hitler-Deutschland. Doch für Iwan Martynuschkin ist klar, dass es so etwas wie Auschwitz, das industriell organisierte Morden von Menschen, nie wieder geben darf: "Das Erinnern, das Gedenken ist doch die Grundlage unseres heutigen Lebens. Und wir versuchen mithilfe diesen Erinnerns darauf hinzuwirken, dass so etwas nie wieder passiert."
Aber Jahrzehnte sind vergangen und junge Menschen wissen immer weniger über die Zeit, in der Millionen Juden und andere Unterdrückte in den Nazi-Konzentrationslagern umkamen, so fürchtet Leonid Tyoruschkin, Leiter des Archivs des Moskauer Holocaust-Zentrums, das auch Gedenkfeiern organisiert. “Die junge Generation weiß leider nicht mehr, was vor 70 Jahren passiert ist. Sie wissen nicht, was der Holocaust war.“
Der 28-jährige Arkadij Berezynez, der für eine politische Jugendorganisation in Moskau arbeitet, ist weniger pessimistisch. Er glaubt, dass auch die junge Generation noch die Kriegs-Erzählungen der Großväter und Urgroßväter kenne und sich der Geschichte bewusst ist. Zu den Gedenkveranstaltungen in Moskau kommen stets Jung und Alt. Weltkrieg ist Familiensache.
Faschismusgefahr in der Ukraine?
Das diesjährige Gedenken verbinden fast alle Holocaust-Gedenkenden in Moskau mit einem Seitenhieb auf das Nachbarland, die Ukraine. Dort gebe es wieder Faschisten, die ganz Europa gefährdeten. Deutsche und Russen stünden erneut auf zwei Seiten der Front, fürchtet auch Iwan Martynuschkin.
Mark Rozovsky ist künstlerischer Leiter des Moskauer Staatlichen Theaters "U Nikitskikh Worot" und für den künstlerischen Teil einer Gedenkfeier im Zentralmuseum mit verantwortlich. "Die heutige Welt ist voller Faschismus. Das Morden geht weiter. Xenophobie, Homophobie, Hass und Religions-Kriege verdrängen den Humanismus, lassen ihn naiv erscheinen. Wir sehen (täglich) Bilder von geköpften Menschen. Wie kann das sein?"
Die politischen Machtspiele um die offizielle Gedenkfeier in Polen findet man in Moskau absurd. "Das ist Politisierung! Auschwitz-Birkenau ist ein polnisches Museum, aber der Gedenktag ist nicht polnisch, nicht russisch, nicht englisch, nicht deutsch. Dieser Tag ist international", findet Leonid Tyoruschkin, dessen Organisation am Vorabend des 27. Januars einen Requiem-Abend mit organisiert hat.
Requiem für die Erinnerung
Auch zu dieser Veranstaltung kamen erneut Veteranen und Auschwitz-Häftlinge sowie hohe internationale Gäste. Zum ersten Mal setzt man in diesem Jahr in Moskau auf einen Zusammenfluss von künstlerischen Elementen und dem Gedenken durch Zeitzeugenberichte. Iwan Martynuschkin ist wieder Ehrengast bei dieser Feierlichkeit, zu der Vertreter aller Religionen gekommen sind. Er will bei solchen Veranstaltungen - solange er kann - die vielen, immer selben Fragen der Journalisten beantworten und damit auch die junge Generation erreichen. Das kann anstrengend sein, und die Erschöpfung steht dem 91-Jährigen ins Gesicht geschrieben. Doch er weiß, wie entscheidend das ist. "Den Frieden sollen sie zu schätzen wissen, das ist das Wichtigste."