Gedenken an den Nazi-Terror der Reichspogromnacht
9. November 2023Irgendwann, nach den offiziellen Reden, hebt der Gesang von Rabbiner Zsolt Balla an. Er stimmt vorn in der Synagoge das jüdische Trauergebet "El Male Rachanim" an und singt von den "Männern und Frauen, Alten und Kindern, die getötet, ermordet, geschlachtet, verbrannt, ertränkt und erdrosselt wurden". Dann nennt er im hebräischen Gesang auch die "Gemeinden im Land Israel", Sderot, Ofakim, Netiwot und weitere Orte, die vom Terror der Hamas am 7. Oktober so grausam getroffen wurden. Die Stimme des 44-jährigen Rabbiners zittert. Er klagt trauernd um die Toten der Shoa. Und um die mehr als 1400 Toten, die durch die Massaker der radikalislamistischen Terrororganisation Hamas ums Leben kamen.
Deutschland gedenkt am 9. November der Pogromnacht von 1938. Damals, vor 85 Jahren, traf staatlich befeuerte Gewalt die Juden im Hitler-Deutschland. Im gesamten Reich brannten rund 1400 Synagogen und Bethäuser. Hunderte Juden kamen zu Tode.
Es war, wie es gelegentlich heißt, "die Katastrophe vor der Katastrophe", vor der Massenvernichtung der Juden. Es bleibt für Deutschland und Juden in Deutschland ein Tag der Trauer, des Gedenkens der Mahnung. Nun, 2023, ist der 9. November wieder ein Tag der Angst.
Neues jüdisches Leben
In der Hauptstadt Berlin findet die offizielle Gedenkveranstaltung in der orthodoxen Beth Zion Synagoge statt. Eigentlich erzählt Beth Zion (hebräisch für: Haus Zions) vom Wiedererstehen jüdischen Lebens in Deutschland. Noch vor knapp 20 Jahren war das 1910 errichtete und bei den Pogromen 1938 im Innern völlig zerstörte jüdische Gotteshaus ein farbloser Bau in einem verwahrlosten Hinterhof. Mehr Ruine als Gebäude. Schwerlich war noch eine hebräische Inschrift zu entziffern.
Aber seit bald 15 Jahren dient das Haus wieder orthodoxen Juden, die hier die Thora studieren, als Gotteshaus. Im gleichen Innenhof nebenan sind ein jüdischer Kindergarten und eine Schule. Hinter der nahen Straßenkreuzung ist ein koscherer Supermarkt. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, hängen an einer Plakatsäule seit Tagen knapp drei Dutzend kleine Plakate der Erinnerung. "Vermisst" oder "Entführt" steht auf den Zetteln. Sie zeigen meist junge Menschen, Israelis, die mit dem Terror der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden.
Vor gut drei Wochen warfen zwei bislang unbekannte Täter Molotow-Cocktails auf den eng gebauten Gebäudekomplex. Der Brandanschlag richtete keine Schäden an. Aber die Gemeinde ist in Angst, Juden in Berlin sind in Angst. Die Polizei und Sicherheitskräfte vor der Tür wurden verstärkt, die Absperrungen ausgeweitet.
An diesem Vormittag sitzen in den engen Bänken der Synagoge alle Spitzen des deutschen Staates. Der Bundespräsident, die Präsidentinnen des Bundestages und des Bundesrats, der Bundeskanzler, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Die meisten Bundesministerinnen und -minister sind gekommen, prominente Abgeordnete. Der Gebäudekomplex wirkt nun wie eine Festung. Die vierspurige Straße ist über gut 500 Meter gesperrt. In den Nachbarstraßen steht kein parkendes Auto mehr. Überall Absperrgitter, Polizeifahrzeuge, auch mehrere Panzerwagen, Scharfschützen der Polizei. So sieht es aus, wenn der deutsche Staat, die deutsche Politik, zu Gast sind beim Gedenken in einer jüdischen Gemeinde.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ist Gastgeber der Feier. Er kommt in seiner Rede von den historischen Bildern des 9. November 1938 und den "historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken" auf die Bilder des 7. Oktober aus dem Süden Israels. Er spricht von Traumata und Ängsten. Die "Jagd auf Juden, dort, wo sie zuhause sind," sei tief eingebrannt in das kollektive Bewusstsein. Schuster kommt zu sprechen auf die "Geisteshaltung radikaler Islamisten, die die Vernichtung Israels und der Juden wollen".
"Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land", sagt er über Deutschland. Er erkenne es zuweilen nicht wieder. Schuster mahnt, sich "einzugestehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen". Dazu gehöre der Judenhass von Islamisten und Rechtsextremen, aber auch der Antisemitismus in der "Mitte der Gesellschaft", in den Hörsälen, Theatern, in "bürgerlichen Vorstadthäusern".
Nach Schuster redet Kanzler Olaf Scholz, 20 Minuten lang. Er spricht von der "Schande" des Antisemitismus in diesen Tagen. Wenn kürzlich Brandsätze auf diese Synagoge in der Brunnenstraße geworfen worden seien, "dann gerät in der Tat etwas aus den Fugen". "Jede Form von Antisemitismus vergiftet unsere Gesellschaft so wie jetzt islamistische Demonstrationen und Kundgebungen", sagt der Kanzler.
Scholz geht, ungewöhnlich für eine solche Gedenkrede, in rechtliche Details und verspricht, "geltendes Recht konsequent durchzusetzen". Antisemitismus sei Grund, eine Einbürgerung zu verweigern. Und wer judenfeindlich agiere, könne seinen aufenthaltsrechtlichen Status in Deutschland gefährden. Drei oder vier Mal verwendet der Kanzler das beschwörend anmutende Wort "Nie wieder!". Es ist die Absage an neuen Judenhass in Deutschland. "Dieses Versprechen müssen wir gerade jetzt einlösen."
"Nie wieder" auch im Bundestag
Bereits zwei Stunden zuvor hatte der Bundestag, die Plätze gut zur Hälfte gefüllt, seinen Sitzungstag mit einer knapp eineinhalbstündigen Debatte "Historische Verantwortung wahrnehmen - jüdisches Leben in Deutschland schützen" begonnen. Da saß Olaf Scholz auf der Regierungsbank, Josef Schuster auf der Besuchertribüne. "Nie wieder ist jetzt!", eröffnete Parlamentspräsidentin Bärbel Bas die Aussprache.
"Nie wieder!", "Nie wieder ist jetzt", sagte als erste Rednerin auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Viele weitere Parlamentarier kamen auf diese Worte. Es soll, so wirkt es, irgendwie nach großer Entschlossenheit klingen und fällt häufig in offiziellen Reden dieser Tage.
Nur einer der Hauptredner an diesem Donnerstag verwendete es nicht, kein einziges Mal: Josef Schuster. Am Abend zuvor hatte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland bei einem Gedenken in seiner Heimatstadt Würzburg gesprochen. Da erwähnte er in seiner Rede Angriffe oder Hakenkreuz-Schmierereien auf jüdische Gemeinden und Geschäfte während der vergangenen Wochen. "Das Versprechen von 'Nie wieder!‘ wandelte sich vor unseren Augen in 'Schon wieder!‘", so Schuster.
Kerzen, Blumen, Namen
Das Gedenken an den 9. November 1938 ist in der Hauptstadt an diesem Tag mehr als die eine große offizielle Feier. Schon am Vorabend brannten in manchen Straßen in der Berliner Mitte Friedhofskerzen auf dem Bürgersteig, neben Rosen und von Anliegern frisch geputzten Stolpersteinen, die an frühere jüdische Bewohner erinnern. In vielen Stadtteilen waren für den späten Nachmittag kleinere Gedenkfeiern geplant.
Und vor dem Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße in der Nähe des Bahnhofs Zoo wurden den ganzen Tag über die Namen von 55.696 Berliner Jüdinnen und Juden verlesen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Fünfundfünfzigtausendsechshundertsechsundneunzig Namen.