Nicht Macht, sondern Verantwortung
Deutschland ist da angekommen und hat seinen Platz dort eingenommen, wo es immer hingehörte: nämlich in der Mitte Europas. Der Franzose Paul Claudel sagte im Sommer 1945: Ihr Deutschen sollt Europa nicht beherrschen wollen. Sondern ihr - das Volk in der Mitte, das Volk mit den meisten Nachbarn - sollt den Völkern um euch herum verständlich machen, dass sie nur gemeinsam eine Zukunft haben. Das ist das europäische Deutschland.
Im Grunde hat die Bundesrepublik Deutschland, also der westliche Teil, diese historische Verantwortung schon unmittelbar nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft erkannt und danach gehandelt. Mit ihrer frühen Entscheidung für die Westintegration der Bundesrepublik hat das damalige Westdeutschland für alle Deutschen seinen Standort definiert: die Gemeinschaft der westlichen Demokratien. Sodann hat es das geteilte, das besiegte Land übernommen, den Weg für den Ausgleich und die Verständigung zwischen West und Ost zu öffnen.
Teilung überwinden, nicht Teilung verschieben
Die deutsche Ostvertragspolitik eröffnete die Chancen eines neuen Anfangs zwischen West und Ost. Das konnte nur und musste eine Bemühung aller Staaten in West und Ost sein. Das Gremium dafür wurde die KSZE, die mit der Schlussakte von Helsinki im Jahre 1975 einen politischen Master-Plan präsentierte, der den Raum von Vancouver bis Wladiwostok umfasste. Man bedenke: Die nordamerikanischen Demokratien und im Osten die ganze Sowjetunion, ihren asiatischen Teil eingeschlossen. Das Ergebnis war die Überwindung der Teilung nicht nur Deutschlands, sondern Europas!
Wirklich? Wird mancher fragen, wenn er die politische Landschaft heute sieht. Die Frage ist berechtigt. Es scheint, als wollten manche gar nicht die Überwindung der Teilung, sondern nur eine Verschiebung der Teilungslinie aus der Mitte Europas in Richtung Osten. Das jedoch wäre ein historisches Missverständnis! Übrigens auch eine Verletzung der Grundphilosophie der Charta von Paris vom 21. November 1990: Darin haben sich die Teilnehmerstaaten der KSZE für einen neuen Entwurf der Zusammenarbeit im KSZE-Raum ausgesprochen.
Neue Impulse für Einheit Europas
So wie Deutschland als geteiltes Land nach dem Zweiten Weltkrieg den europäischen Einigungsprozess mit neuen Impulsen versah, so ist das vereinte Deutschland heute aufgerufen, dieser europäischen Einigung neue Impulse zu geben. Vornehmlich in zwei Richtungen: Erstens muss der Einigungsprozess mit Klarheit und Entschlossenheit vorangetrieben werden. Es geht nicht um die Frage von mehr oder weniger Europa, sondern es geht um die Frage: Europa weiterbauen oder zurück in die alten Schützengräben? Das bedeutet zweitens, die Teilung Europas nicht neu zu betreiben, wo doch die Einheit so viel Gutes erbracht hat.
Deutschlands Rolle bei alledem? Nicht die des Antreibers, aber die des Motors, des Ideengebers, die Rolle desjenigen, der immer wieder an die Mahnung Claudels von 1945 erinnert. Es geht darum, in der entstehenden neuen Weltordnung Europa zu einem Versuchslabor zu machen, das überall als gerecht empfunden werden kann.
Um es in einem zu sagen: Das neue Deutschland in dem neuen Europa bedeutet nicht mehr Macht, aber mehr Verantwortung. Verantwortung für eine Welt der Gleichberechtigung und der Ebenbürtigkeit, aber nicht der Vorherrschaft; in einer Welt, in der stets jedem bewusst ist: Es wird einem Volk auf Dauer nicht gut gehen, wenn es anderen auf Dauer schlecht geht. Das ist das Ergebnis einer globalen Interdependenz, die die Völker der Welt zu mehr als einer Völkergemeinschaft verbindet: zu einer Schicksals- und Überlebensgemeinschaft.
Hans-Dietrich Genscher war zwischen 1974 und 1992 Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zuletzt hat er Mitte September sein Buch "Meine Sicht der Dinge" veröffentlicht.
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