Nicht das Ende, aber ein Warnschuss
Die Niederlagen der türkischen Regierungspartei AKP bei der Kommunalwahl vom vergangenen Sonntag führen eines in aller Deutlichkeit vor Augen: Die Partei hat ihren Zenit überschritten. Vorbei ist die Leichtigkeit, mit der sie seit ihrer Gründung 2001 nahezu alle Wahlen gewonnen hat. Nichts mehr war im Wahlkampf von der Leidenschaft zu spüren, mit der ihre Funktionäre und Kandidaten in der Vergangenheit stets gekämpft hatten.
Hochmut und Unmut
Denn bei den einen nahm der Hochmut der Mächtigen Überhand, bei denen anderen der Unmut über die Politik, für die die AKP seit einigen Jahren steht. Als Erdogan seine traditionelle Nach-Wahl-Ansprache auf dem Balkon der AKP-Zentrale hielt (Artikelbild), wollte er außer seiner Frau Emine und seinem Sprecher Altun niemand anderen neben sich haben. Und als er am folgenden Tag die Istanbuler AKP-Zentrale besuchte, grüßte er nicht einen einzigen Funktionär. Diese Funktionäre mussten schon deshalb Einspruch gegen die Wahl in Istanbul einlegen, um vielleicht doch noch ihren Kopf zu retten.
Das alles bedeutet aber nicht, dass jetzt das Ende der AKP und das Ende ihres Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan eingeläutet ist. Denn die Kommunalwahlen ändern an der Verteilung der Macht in Ankara nichts. Nachdem die Türken in den vergangenen fünf Jahren sechsmal an die Wahlurnen gerufen worden sind, finden die nächsten Wahlen nun erst wieder in vier Jahren statt. Erdogan hat also vier Jahre Zeit, um das zu tun, was die Türken erwarten. Auch vom Parlament droht keine Gefahr: Dort hat die AKP mit der verbündeten nationalistischen MHP eine deutliche Mehrheit.
Die Wahlen waren jedoch ein lauter Warnschuss, der noch lange nicht verhallen wird. Ändert Erdogan seine Politik nicht und erfindet sich die AKP nicht neu, etwa indem sie sich auf ihre reformorientierten Gründungsideale des Jahres 2001 zurückbesinnt, könnte ihr im Jahr 2023, wenn die Republik 100 Jahre alt wird, ein Debakel drohen.
Eine Partei ohne Ziel
Vier Gefahren drohen der AKP und Erdogan. Erstens: Der Partei ist der frühere Elan abhandengekommen. Sie kämpft nicht mehr, und sie hat auch kein Ziel mehr, wohin sie die Türkei führen will. Zweitens: Aus diesem Grund wollen innerparteiliche Dissidenten um den früheren Wirtschaftsminister Ali Babacan und den früheren Staatspräsidenten Abdullah Gül eine neue Partei gründen, die auf die Prinzipien der frühen AKP zurückgreift. Drittens: Die größte Oppositionspartei CHP, die über Jahrzehnte eine Partei der Verlierer war, hat mit ihren Erfolgen vom Sonntag neuen Schwung bekommen - sie ist in den Augen vieler Türken wieder zu einer Alternative zur AKP geworden.
Der vierte Grund zeigt jedoch, dass die AKP mit ihrer bisherigen Politik immer weniger Erfolg haben wird: Denn die türkische Jugend hat sich - das belegen Langzeituntersuchungen - in den vergangenen zehn Jahren verändert, vor allem in den Städten. Die Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen ist moderner und säkularer geworden, als es dieselbe Altersgruppe noch vor einem Jahrzehnt gewesen war. Sie vergleicht die AKP nicht mehr mit den gescheiterten Regierungen der 1990er-Jahre. Sie kennt nur noch Erdogan und die AKP - und lehnt sie zunehmend ab. Denn deren Politik entspricht nicht ihrem Lebensstil. Erfindet sich die AKP also nicht neu, wird sie bald keine Volkspartei mehr sein, sondern nur noch eine Partei des konservativen Zentralanatolien.