In meinen Händen halte ich die Schlüssel zu meiner Wohnung in Butscha, die erhalten geblieben ist. Auch in ihr hausten russische Soldaten, doch sie hatten das schmutzige Geschirr sogar in die Spüle gestellt. "Wir haben wohl Glück gehabt", sage ich etwas selbstironisch zu mir selbst.
Natürlich wäre es besser gewesen, wir hätten überhaupt nicht so ein "Glück" gehabt - wenn uns am 24. Februar keine russischen Soldaten und Raketen angegriffen hätten, wenn es nicht diesen achtjährigen Krieg im Donbass und auch nicht die Annexion der Krim gegeben hätte, wenn wir weiter in unseren Häusern gelebt und Urlaub am Meer gemacht hätten.
Vielleicht hätte ich dann aus Jalta eine Kolumne über ukrainische Schriftsteller geschrieben, die dort ihre Sommerferien verbracht haben oder zur Erholung dorthin gefahren sind. Zum Beispiel die ukrainische Dichterin Lesja Ukrajinka, die in Jalta ihr Gedicht "Iphigenie auf Tauris" geschrieben hat, oder der Dichter und Arzt Stepan Rudanskyj, der in dieser Stadt mitgeholfen hat, ein Wasserversorgungssystem aufzubauen.
Die Schlüssel, die ich in den Händen halte, hängen an einem Steppenigel. Der witzige Anhänger ist ein Souvenir aus Saporischschja, aus dem dortigen Kosakenmuseum auf der Chortyzja, der größten Insel im Dnipro. Im 16. bis 18. Jahrhundert war sie eines der Zentren der sogenannten Saporoger Sitsch, der autonomen ukrainischen Staatsformation der ukrainischen Kosaken. Erlaubt mir die romantische Parallele, denn es scheint mir, dass sich über Jahrhunderte nichts geändert hat und die ukrainischen "Kosaken" jetzt wieder gegen Eindringlinge kämpfen müssen, die aus Moskowien und über das Wilde Feld, die Steppenlandschaft der heutigen Süd- und Ostukraine kommen.
"Keine Rückkehr in die Sicherheit"
Die Rhetorik von einem Kampf für europäische Werte ist zwar großartig, aber die Männer und Frauen an vorderster Front stehen wie einst zuallererst für ihr eigenes Land ein. Sich "irgendwie zu einigen", fürchte ich, wird hier leider nicht funktionieren. Schließlich sind die Russen mit ihren Raketen gekommen, nicht um sich "irgendwie zu einigen".
Meine Wohnungstür könnte ich mit meinen Schlüsseln öffnen, aber das wäre keine Rückkehr in eine Sicherheit. Ein Monat schriftstellerischen Aufenthalts in Österreich hatte mir das süße Gefühl von Sicherheit und Normalität im Leben vermittelt, wo man scheinbar Pläne schmieden kann. Dort spürte ich, was die Menschen denken: "Nein, das wird uns nicht passieren", "All diese Kriege sind irgendwo im Osten, ob in Nahost oder Fernost oder in Osteuropa."
Kaum zu glauben, aber selbst ich, eine Frau aus dem "Osten", hielt einen Krieg für unmöglich. Was die Parallelen zwischen den Konflikten auf dem Balkan und dem jetzigen Krieg in der Ukraine angeht, möchte ich aus dem Essay des ukrainischen Schriftstellers Andrij Ljubka "Orientalismus" zitieren. Demnach sei Krieg nur im Osten Europas bei den Orthodoxen und Slawen möglich. Dort sei keine EU. Im alten Europa hingegen werde es nie wieder Krieg geben, schließlich sei Europa in der NATO und Europa habe aus der Lektion des Zweiten Weltkriegs gelernt und erinnere sich an die zerstörten Städte und die Millionen Toten. Daher: Nie wieder!
Das Schlimme ist, dass die Sirene, die mich an meinem ersten Tag in einer österreichischen Stadt weckte, sehr real war, sie war kein Phantom, auch wenn sie nur ein Test war. Sie schien mir sagen zu wollen, dass der Luxus von Frieden und Sicherheit unsichtbar ist wie die Luft. Die Sirene tut man dort ab, als wäre sie eine lästige Fliege, eine Seuche, die sich niemals auf diese Länder ausbreiten werde. Das ist eine ziemlich erwartbare und gesunde Reaktion von Menschen, deren Land geografisch gesehen einfach mehr Glück hatte.
Konflikte sind längst nicht mehr lokal
Aber auch "mein Osten" hatte zum Beispiel den Konflikt in Syrien nicht verstanden und die Menschen waren distanziert: "Okay, das ist irgendwo im Nahen Osten, dort war es schon immer unruhig, da kann alles passieren. Es gibt irgendwelche Flüchtlinge, die in die EU fliehen, und man nutzt sie hinterhältig aus, um für Spannungen an den Grenzen zu sorgen, wie am Vorgehen von Belarus an der polnischen Grenze zu sehen war. Sie tun einem leid, aber was können wir schon tun? Sie hatten eben Pech." Doch nun begreifen wir: Dieselben Bomben und Raketen, die auf Aleppo fielen, fliegen jetzt auf ukrainische Städte.
Ich erinnere mich, wie in einem Supermarkt in Butscha eine Verkäuferin, die aus dem Donbass übergesiedelt war, sich darüber beschwerte, dass 2014 hier in Kiew kaum jemand die russische Invasion in der Ostukraine wahrgenommen habe. Sie hatte teilweise recht. Denn es war ja nur der Donbass, "wo alles passieren kann".
Alle diese Konflikte sind noch bedingt lokalisiert, aber es sind keine lokalen Konflikte mehr. Sie sind nicht mehr nur irgendwo in einem "mythischen Osten". Dieser "Osten" verschiebt sich immer weiter nach Westen.
Julia Stachiwska ist eine ukrainische Dichterin, Illustratorin und Journalistin. Die Autorin zahlreicher Bücher wurde 1985 in Schytomyr geboren. Dort absolvierte sie die Staatliche Kunstschule. Sie studierte auch an der Ostroch-Universität und der Kiewer Mohyla-Akademie.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk