Ganz Russland feiert die Sbornaja
8. Juli 2018Bei der gigantischen Abschiedsparty trockneten am Sonntag auch die letzten Tränen. Tausende Fans bereiteten Russlands Fußball-Helden 18 Stunden nach dem bitteren Aus bei der Heim-WM einen berauschenden Empfang in Moskau, Trainer Stanislaw Tschertschessow und seine Spieler wurden wie Popstars gefeiert. Während das Team den glückseligen Anhängern ein Banner mit der Aufschrift "Wir haben für Euch gespielt" entgegenstreckte, sangen alle ergriffen die Nationalhymne.
Der WM-Traum ist zwar vorbei, doch ganz Russland liebt seine Weltmeister der Herzen. Schon in der Nacht hatten auf der Nikolskaya, der riesigen Partymeile im Zentrum der Hauptstadt, und im ganzen Land die Fans trotz des bitteren K.o.-Schlags gegen Kroatien wie wild gefeiert. Schnell überwog der Stolz auf die bärenstarke Sbornaja und eine märchenhafte Endrunde.
Etwa eine Stunde nach der 3:4-Niederlage im Elfmeter-Krimi gegen Kroatien war ein körperlich und mental völlig erschöpfter Tschertschessow wie ein schwer geschlagener Boxer vor die Presse getreten, die ersten Journalisten-Fragen bekam er gar nicht mit. Der Nationaltrainer, der weltweit zum Gesicht des extrem wehrhaften Außenseiters geworden war, tat sich am schwersten, den Frust abzustreifen.
Selbst ein Anruf Putins kann den Ärger nicht vertreiben
Selbst ein Anruf von Präsident Wladimir Putin, der nicht zum Spiel nach Sotschi gereist war, konnte Tschertschessow zunächst nicht aufrichten. "Ich habe ihm gesagt, dass wir sehr enttäuscht sind", sagte der Trainer: "Wir hoffen, dass wir in Zukunft noch einen Schritt weiter gehen können." Dimitri Medwedew ist sich dessen sicher. Putins Premierminister bedankte sich auch im Namen seines Bosses persönlich beim Team in der Kabine des Olympiastadions für "eine großartige WM". Er war überzeugt, Zeuge einer Zeitenwende geworden zu sein. Der russische Fußball werde nie wieder "sein enttäuschendes altes Selbst" zeigen, sagte Medwedew: "Ich bin ganz sicher, dass wir einfach einen anderen Fußball sehen werden."
Ob Tschertschessow die vermeintliche neue Ära des russischen Fußballs weiter prägen wird, ist offen. "Es ist nicht vorhersagbar, ob ich bleibe oder nicht, wir werden erst mal nicht nach vorne schauen", sagte der 54-Jährige: "Wir müssen alles sorgfältig analysieren." Die Russen werden wohl alles dafür tun, ihren Nationaltrainer vom Weitermachen zu überzeugen. Kritische Worte waren in den russischen Medien am Tag nach der Pleite kaum zu vernehmen. In einer Umfrage des populären Fachportals Sports.ru bewerteten mehr als 80 Prozent der Befragten die WM trotz des Ausscheidens des Gastgebers positiv.
Grenzen des Glücks erreicht?
Allenfalls Fedor Smolow bekam sein Fett weg. Nachdem Russland in einer nervenaufreibenden Verlängerung durch Domagoj Vida zunächst das 1:2 kassiert (101.) und dann doch noch durch den eingebürgerten Brasilianer Mario Fernandes ausgeglichen hatte (115.), vergab Smolow den ersten Elfmeter mit einem überheblichen Lupfer. Trotzdem herrschte grundsätzliche Jubelpflicht. "Champion unserer Herzen", titelte Sport Express, und Sowjetski Sport schrieb: "Danke, Jungs! Ihr habt gegen Kroatien verloren, aber wie die Löwen gekämpft."
Dass nun allerdings tatsächlich die Zukunft des russischen Fußballs golden leuchtet, darf getrost bezweifelt werden. Auch gegen die Kroaten war die Sbornaja wie schon im Achtelfinale gegen Spanien, das sie im Elfmeterschießen gewann, spielerisch klar unterlegen. Vor allem dank ihres unbändigen Kampfgeistes und eines fast unglaublichen Laufvermögens, das nicht wenige Anti-Doping-Experten mit Argwohn beäugen, konnten die Russen in der K.o.-Phase mithalten. Gegen die Kroaten liefen sie neun Kilometer mehr als der Gegner.
So gab es in den russischen Medien trotz allen Jubels auch Stimmen, die die Leistung des Teams zwar anerkannten, aber auch realistischer als Medwedew einordneten. "Die Grenze des Glücks ist erreicht", stellte Gazeta trocken fest, und Sport Express fragte: "Wann wird Russland wieder die Chance auf ein WM-Halbfinale haben? Wahrscheinlich erst beim nächsten Heimturnier, wenn wir alle nicht mehr leben."
jst/to (dpa/sid)