Fußball ist in Georgien auch politisch
10. November 2020Die größte Stunde des georgischen Fußballs schlug im Jahr 1981. Damals gewann Dinamo Tiflis gegen Carl Zeiss Jena den Europapokal der Pokalsieger. Damals berichteten die sowjetischen Medien stolz. Tausende Georgier zogen auf die Straßen. Ungehemmt, fröhlich, selbstbewusst. Die Staatsmacht ließ sie gewähren, ein letztes Mal. In der Sowjetunion zählte Georgien zu den kleineren der 15 Teilrepubliken. Geografisch, politisch - aber nicht im Fußball. Neben den großen Moskauer Klubs hatte sich Dinamo Tiflis als verlässliche Größe etabliert, auch wegen der Aufbauhilfe von Geheimdienstchef Lawrenti Beria, einer Schlüsselfigur des Terrors unter Diktator Stalin.
Wenige Jahre nach dem Europapokalsieg von Dinamo Tiflis wuchs in Georgien die Unabhängigkeitsbewegung. Mehrere Demonstrationen gegen den Kommunismus wurden von sowjetischen Soldaten niedergeschlagen, mit Dutzenden Toten und Verletzten. Als ein Symbol des Widerstandes etablierte sich der Fußball. 1990 formierte sich in Georgien die erste nationale Liga - bereits ein Jahr vor der offiziellen Unabhängigkeit ihres Landes.
"Diese Meisterschaft wurde geprägt durch georgischen Nationalismus", sagt der Kaukasus-Experte Rusif Huseynov. "Auf Anweisung der politischen Führung mussten die Vereine ihre russischen Namen ablegen. Auch die Spieler sollten ihre Nachnamen an die georgische Kultur angleichen."
Ein Spieler stirbt bei den Gefechten
Einige Vereine auf georgischem Gebiet verweigerten 1990 den Beitritt zur neuen georgischen Fußballliga, sie blieben lieber dem sowjetischen Spielbetrieb treu, zum Beispiel Dinamo Suchum aus Abchasien. In dieser Region am Schwarzen Meer fühlen sich viele Menschen stärker mit der russischen als mit der georgischen Kultur verbunden. Nach dem endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte sich Abchasien 1992 unabhängig. Georgien wollte die Region jedoch mit militärischer Gewalt bei sich eingliedern. Es kam zum Sezessionskrieg, tausende Menschen starben, mehr als 200.000 Georgier wurden vertrieben.
Wieder spielte Fußball für die Symbolik eine Rolle: Quellen legen nahe, dass auch in abchasischen Stadien georgische Gefangene hingerichtet wurden. Der Spielort des FC Gagra zum Beispiel wurde nach Daur Achwlediani benannt. Der abchasische Spieler hatte sich den Separatisten angeschlossen und wurde bei Kämpfen getötet. Nur mit russischer Hilfe konnte Abchasien die georgische Armee zurückdrängen, der Krieg endete 1993.
Olympia als Bühne für politischen Streit
Seitdem betrachtet sich Abchasien als eigenständigen Staat, wird allerdings von den meisten Regierungen der Welt weiterhin als Teil von Georgien angesehen. Das gleiche gilt für die gebirgige Region Südossetien, wenige hundert Kilometer östlich von Abchasien gelegen, und ebenfalls an der Grenze zu Russland. Für einige Jahre blieb der Konflikt ruhig, das änderte sich im August 2008: Tiflis wollte die abtrünnigen Regionen mit Gewalt zurückzugewinnen. Abermals drängten russische Truppen das georgische Militär zurück. Knapp eine Woche dauerten die Gefechte, mehr als 800 Menschen kamen ums Leben.
"Zeitgleich fanden die Olympischen Spiele in Peking statt", erinnert sich der britische Sportwissenschaftler Joel Rookwood, der sich seit langem mit dem Kaukasus beschäftigt. "Die Regierungen nutzten die Weltbühne für ihre politischen Botschaften."
Auf einer Pressekonferenz im Rahmen der Spiele schimpfte der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili gegen die Einmischung aus Moskau. Saakaschwili galt als westlich orientierter Reformer. Nach seinem Verständnis wurden georgische Gebiete von Russland besetzt. Ebenfalls heikel: die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi, wenige Kilometer von Abchasien entfernt. Wieder gab es Provokationen zwischen Russland und Georgien, aber keine Eskalation.
Abchasien feiert die alternative WM
In Zeiten der Sowjetunion führte der Weg von besonders talentierten Fußballern aus Abchasien oft zum georgischen Vorzeigeklub Dinamo Tiflis - heute wäre das allerdings undenkbar. Es gibt heute daher wenige Persönlichkeiten, die mit ihren Biografien eine Brücke zwischen den Konfliktparteien schlagen könnten. Zum Beispiel Temur Ketsbaia, aufgewachsen in Abchasien, später Profi bei Dinamo Tiflis und ab 2009 Nationaltrainer Georgiens, seit fünf Jahren aber im Ausland tätig. Viele Menschen in Abchasien schauen lieber auf Russland, etwa auf Stanislaw Tschertschessow, den Nationaltrainer des russischen Nationalteams, aufgewachsen in der Kaukasus-Nachbarschaft in Nordossetien. Oder auf die russische Nationaltorhüterin Elvira Todua, geboren in Abchasien.
Die von den Vereinten Nationen nicht anerkannten Regionen Abchasien und Südossetien haben zusammen knapp 300.000 Einwohner. Ihre Fußballer sind weder im georgischen, noch im russischen Spielbetrieb integriert. Stattdessen haben sie sich der CONIFA angeschlossen, dem Fußballverband der nicht anerkannten Staaten, Minderheiten und Regionen. 2016 fand in Abchasien die Weltmeisterschaft der CONIFA statt. "Für die Menschen war das eine seltene Möglichkeit der Repräsentation", erzählt Sascha Düerkop, Mitgründer der CONIFA. "In ihrer Eröffnungsfeier haben sie die lange und vielfältige Geschichte betont - und nicht den Konflikt." Abchasien gewann das Turnier, 10.000 Menschen feierten auf den Straßen.
Nationalistische Ultras wettern gegen Putin
Der Kaukasus zählt mit etwa vierzig Sprachen zu den vielfältigsten Regionen der Welt. In den Konflikten zwischen den Bevölkerungsgruppen geht es um Begriffe wie Territorium, Identität, Zugehörigkeit. Und der Fußball ist dabei eine Plattform für Gebietsansprüche. In Tiflis haben Georgier, die aus Abchasien vertrieben wurden, den FC Gagra gegründet, in Anlehnung an ihre Heimatstadt. In der Qualifikation für die Europa League widmeten Fans von Lokomotive Tiflis vor kurzem ihren Sieg gegen Dinamo Moskau den "Helden, die für eine vereintes Georgien kämpfen".
Auch die Ultras von Dinamo Tiflis gelten als nationalistisch. Einige von ihnen schwenken die alte georgischen Flagge, die vor mehr als hundert Jahren gültig war, noch vor der russischen Besetzung Georgiens ab 1921. Zudem schimpfen sie auf Wladimir Putin und solidarisieren sich mit Fans, die aus dem Osten der Ukraine vertrieben wurden. Oder sie machen sich lustig über Separatisten. Zum Beispiel 2015: Damals fand der europäische Supercup zwischen dem FC Barcelona und dem FC Sevilla in Tiflis statt. Jugendliche aus Abchasien reisten in die georgische Hauptstadt, weil sie Lionel Messi sehen wollten. Journalisten in Abchasien bezeichneten sie als Verräter, die zum Feind überlaufen.
An diesem Donnerstag könnte sich die georgische Nationalmannschaft im Playoff gegen Nordmazedonien für die EM 2021 qualifizieren, es wäre ihr erstes großes Turnier. Nach ökonomischen und politischen Krisen stünde Georgien im Rampenlicht. Ausgeschlossen ist es nicht, dass sich darüber auch Menschen in Abchasien freuen würden.