Atommüll und Fukushima: Endlager Meer
11. März 2021Am 11. März 2011 traf eines der stärksten jemals gemessenen Erdbeben die Nordostküste Japans. Zehn Meter hohe Wellen eines Tsunamis prallten kurze Zeit später auf die Küste. Große Teile des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi wurden beschädigt, es kam zur Kernschmelze. Es war die verheerendste nukleare Katastrophe seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986. Rund 20.000 Menschen kamen durch das Beben und den darauffolgenden Tsunami ums Leben.
Die enorme Mengen freigesetzten radioaktiven Materials kontaminierte Luft, Böden, Lebensmittel und das Wasser der gesamten Region. 160.000 Menschen mussten daraufhin die Region verlassen.
Bis heute müssen die Reaktoren mit Wasser gekühlt werden, um weitere Kernschmelzen und Verseuchung zu verhindern.
Das verstrahlte Wasser wird bisher in mehr als 1000 Tanks auf dem Gelände gesammelt, doch die sollen bald voll sein. Nun hat die japanische Regierung entschieden, in zwei Jahren mit der Einleitung von mehr als 1,2 Millionen Tonnen des radioaktiven Wassers ins Meer zu beginnen. Das Wasser soll vorher gefiltert und verdünnt werden, sodass sich darin nur noch das Isotop Tritium befindet. Tritium wird als relativ harmlos eingeordnet, es hat zu wenig Energie, um die menschliche Haut zu durchdringen.
Protest kommt dennoch von Umweltschützern und aus den Nachbarländern. "Diese Aktion ist extrem unverantwortlich und wird die internationale öffentliche Gesundheit und Sicherheit sowie die grundlegenden Interessen der Menschen in den Nachbarländern ernsthaft schädigen", zitiert die Nachrichtenagentur Reuters das chinesische Außenministerium.
Auch in Südkorea sind die Behörden "ernsthaft besorgt" über die Pläne der japanischen Regierung und fordert Gespräche; das Außenministerium fürchtet laut einem Statement "direkten und indirekte Auswirkungen für die Sicherheit unserer Bürger und die Umwelt".
Verhängte Importverbote für Fischprodukte aus der Region Fukushima wurden bereits im Vorfeld verlängert. Südkorea testet seit Jahren Lebensmittelimporte aus Japan auf Strahlung und will nun die Messungen im eigenen Land intensivieren.
Radioaktivität im Meer
Das Thema ist brisant, denn die atomare Katastrophe hatte zu einer extremen Belastung der Küste vor Fukushima geführt. Hoch radioaktiv verseuchtes Wasser floss damals "direkt ins Meer - in Mengen, wie wir es noch nie in der Meereswelt gesehen haben", sagt Sabine Charmasson vom französischen Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN).
Die Strahlungswerte im Meer bei Fukushima lagen millionenfach über dem Grenzwert von 100 Becquerel. Auch Fische und Meerestiere waren damals extrem belastet, seitdem ist die Belastung allerdings deutlich zurückgegangen. Bei Messungen lag beispielsweise die Belastung von Fischen mit hoch radioaktivem Cäsium seit 2015 unter den gesetzlichen Grenzwerten.
Doch bis heute sind radioaktive Substanzen vor der japanischen Küste und in anderen Teilen des Pazifiks nachweisbar. In sehr geringen Mengen sind sie sogar an der Westküste der USA messbar, allerdings deutlich "unter der von der von der Weltgesundheitsorganisation festgelegten schädlichen Menge", so Vincent Rossi Ozeanograf am französischen Institut für Mediterrane Meereswissenschaften (MIO).
Ungefährlich sei das aber nicht, heißt es in einer Studie des des europäischen Parlaments: " Selbst die kleinstmögliche Dosis, ein Photon, das einen Zellkern durchquert, birgt ein Krebsrisiko. Obwohl dieses Risiko extrem gering ist, ist es dennoch ein Risiko." Und dieses Risiko nimmt weltweit zu.
Verstrahlte Ozeane seit den ersten Atomtests
1946 testeten die USA im pazifischen Bikini-Atoll als erste Nation eine Atombombe in einem Meeresgebiet. Weltweit folgten über Jahrzehnte insgesamt mehr als 250 Nuklearwaffentests auf hoher See. Die meisten (193) durchgeführt von Frankreich in Französisch-Polynesien sowie von den USA (42), zumeist auf den Marshallinseln im Zentralpazifik.
Bis Anfang der 90er Jahre wurde das Meer nicht nur als Übungsgebiet für einen Atomkrieg verwendet, sondern diente auch als gigantische Müllkippe für radioaktiven Abfall aus Atomkraftwerken.
Von 1946 bis 1993 landeten weltweit mehr als 200.000 Tonnen zum Teil hoch radioaktive Rückstände in den Ozeanen - das meiste davon in Metallfässern, so die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA). Auch mehrere Atom-U-Boote inklusive nuklearer Munition wurden versenkt.
Das Meer als perfektes Endlager?
Der größte Anteil des verklappten Atommülls kam aus Großbritannien und der Sowjetunion. Die USA versenkten bis 1991 über 90.000 Fässer und mindestens 190.000 Kubikmeter radioaktive Flüssigkeit im Nordatlantik und im Pazifik. Auch Belgien, die Schweiz, die Niederlande und Frankreich entsorgten in den bis in die 80er Jahren tonnenweise strahlenden Müll im Nordatlantik.
"Nach dem Motto ‘Aus den Augen aus dem Sinn‘ war die Verklappung von Atommüll die einfachste Art, den Atommüll erst einmal wegzukriegen", so Horst Hamm von der atomkritischen NGO Nuclear Free Future Foundation.
Bis heute geht rund 90 Prozent der radioaktiven Strahlung von Fässern im Nordatlantik aus, die meisten lagern nördlich von Russland oder vor der westeuropäischen Küste.
Auch Deutschland machte mit
"Die Fässer liegen überall", sagt Yannick Rousselet von Greenpeace Frankreich. Er war dabei, als die Umweltorganisation im Jahr 2000 nur wenige hundert Meter vor der nordfranzösischen Küste mit U-Booten nach verklappten Müllfässern tauchte - und sie in 60 Metern Tiefe fand. "Wir waren überrascht, wie nah sie an der Küste liegen. Sie sind rostig und lecken, die Strahlung ist eindeutig erhöht."
Auch Deutschland hat 1967 laut dem Bericht der Internationalen Atom-Organisation 480 Fässer vor der portugiesischen Küste verklappt. Auf eine Anfrage der Grünen im Jahr 2012 zum Zustand dieser Fässer schrieb die Bundesregierung:
„Die Fässer waren nicht konzipiert, um einen dauerhaften Einschluss der Radionuklide am Meeresboden zu gewährleisten. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass sie zumindest teilweise nicht mehr intakt sind [...]".
Radioaktive Entsorung bis heute
Yannick Rousselet ist besorgt, nicht nur wegen der maroden Fässer. "Die gesamte Gegend an der Küste ist radioaktiv verseucht. Nicht nur im Meer, auch im Rasen und im Sand - überall kann man sie messen", sagt er.
Das liegt auch an der Wiederaufbereitungsanlage für hochradioaktive Brennelemente in La Hague, direkt an der nordfranzösischen Küste. Sie "leitet jedes Jahr ganz legal 33 Millionen Liter radioaktive Flüssigkeiten ins Meer", so Rousselet. Denn es ist international weiterhin erlaubt, radioaktiv belastete Flüssigkeiten ins Meer zu leiten. Die Verklappung von Atommüll in Fässern ist jedoch seit 1993 weltweit verboten.
Niedrige Radioaktivität und erhöhte Krebsraten
Laut einer Studie des Europäischen Parlaments sind die Krebsraten in der Region um La Hague deutlich erhöht - wie auch in der Nähe anderer Wiederaufbereitungsanlagen, etwa im nordenglischen Sellafield.
Eine Studie aus dem Jahr 2014 zeigt, dass die Gesamtemenge der über die Jahre aus der Anlage in Sellafield ins Meer geleiteten Radioaktivität der ernormen Menge entspricht, die durch den Atomunfall in Fukushima freigesetzt wurde.
Auch wenn es bisher keinen eindeutigen Beweis für einen Zusammenhang von Krankheiten mit der radioaktiven Freisetzung von Nuklearanlagen gebe "kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass diese zu den gesundheitlichen Auswirkungen beitragen", heißt es in der Studie.
Ist bei der Entsorgung in Fukushima alles anders?
In Fukushima beteuert die Betreiberfirma des Kernkraftwerks, Tokyo Electric Power Co., dass vor der jetzt geplanten Einleitung des Kühlwassers ins Meer alle 62 radioaktiven Elemente aus dem Wasser auf ein ungefährliche Level herausgefiltert werden - bis auf das Isotop Tritium. Das Einleiten des Kühlwasser ins Meer schätzt das Beratergremium in Tokio als "sicherer" ein im Vergleich zu anderen Methoden, etwa der Verdunstung des Wassers.
Wie schädlich das wasserlösliche Tritium für den Menschen ist, ist umstritten. Und laut Greenpeace befinden sich in dem gefilterten Kühlwasser noch weitere radioaktive Substanzen, darunter Strontium-90, dass sich in Knochen einlagere, sowie C14 - mit einer Halbwertszeit von 5700 Jahren. Die Folgen dieser Stoffe für die Meeresumwelt würden bislang ignoriert.
"Wir sind absolut gegen eine Freisetzung von kontaminiertem Wasser in den Ozean, da dies katastrophale Auswirkungen auf die Zukunft der japanischen Fischereiindustrie haben könnte", sagte Hiroshi Kishi, Präsident des landesweiten Verbandes der japanischen Fischereigenossenschaften bei einem Treffen mit Regierungsvertretern.
Obwohl die Belastung der Fische heute unter den Grenzwerten liegt, ist die Nachfrage nach Fisch aus der Region im Vergleich zur Zeit vor der Katastrophe auf ein Fünftel geschrumpft.
Das Kühlwasser ins Meer zu leiten "ist wegen der verdünnenden Eigenschaften des Wassers eine gute Methode", sagt dagegen Sabine Charmasson vom französischen Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN). “Es gibt keine wirklichen Sicherheits-Probleme. Aber es ist schwierig, weil es auch soziale Auswirkungen hat. Vielleicht ist es das geeignete Mittel, aber es ist nie einfach, radioaktive Substanzen in die Umwelt zu leiten". Für Greenpeace dagegen "gibt keine Rechtfertigung für eine zusätzliche, absichtliche radioaktive Verschmutzung der Meeresumwelt oder der Atmosphäre."
Seit 2011 hat sich Japan fast komplett aus der Kernkraft zurückgezogen. Statt früher mehr als 50 Reaktoren laufen heute nur noch zwei. Das könnte sich aber bald ändern. Trotz des großen öffentlichen Misstrauens gegen die Atomkraft hat der japanische Premierminister Yoshihide Suga angekündigt, das Land werde erneuerbare Energien und auch die Atomenergie ausbauen, um das Netto-Null Klimaziel des Landes bis 2050 zu erreichen.
Das Einleiten des Kühlwassers ins Meer wird Jahrzehnte dauern.
Dieser Artikel ist eine aktualisierte Version eines 2020 publizierten Hintergrundartikels.