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Elend und Mafia

29. Januar 2012

Der Staat hat Rio de Janeiros größtes Elendsviertel Rocinha, lange Zeit ein Rückzugsraum der Drogenmafia, zurückerobert. Doch es gibt noch viel zu tun, um das Leben der Menschen dort zu verbessern.

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Blick auf die Favela Rocinha. (Foto: Sam Cowie)
Blick auf die Favela Rocinha.Bild: DW/Sam Cowie

Samstag nachmittag in Rios Elendsviertel Rocinha. Im Hof einer Kirche hat sich eine Menschenmenge versammelt. Die Gläubigen begrüßen Dom Orani Tempesta, den Erzbischof von Rio de Janeiro. Während der Bischof im Konfettiregen die Kirche betritt, fährt draußen ein schwarzer Pick-Up vorbei. Auf der Ladefläche hocken Männer mit schweren Waffen.

Vor rund 30 Jahren begann der Drogenhandel im Viertel. Seitdem sind die Bewohner den Anblick Bewaffneter gewöhnt. Bisher trugen sie die Insignien der Gang-Kultur: Turnschuhe, Fußball-Trikots und auffälligen Schmuck.

Schwer bewaffnete Polizisten kontrollieren die Favela (Foto: Sam Cowie)
Schwer bewaffnete Polizisten kontrollieren die FavelaBild: DW/Sam Cowie

Die neuen Bewaffneten sehen anders aus: Kampfstiefel, schusssichere Westen, schwarze Uniform. An ihrem linken Oberarm prangt das martialische Abzeichen der BOPE, ein von einem Messer durchbohrter Totenkopf vor zwei gekreuzten Pistolen. Das "Batalhao de Operacoes Policiais Especiais" ist Rios Sondereinsatzkommando.

Aufräumen für die WM

Die Rocinha ist Rio de Janeiros größte Favela, so nennen die Brasilianer die Elendsviertel, die es in jeder größeren Stadt des Landes gibt. Die Rocinha liegt mitten in der Stadt, auf einem Quadratkilometer anarchisch wuchernder Hütten leben hier je nach Schätzung zwischen 120.000 und 200.000 Menschen.

Lange war die Rocinha ein rechtsfreier Raum, beherrscht von der Drogenmafia. Dann, am 13. November 2011, besetzten mehr als 3000 Polizisten das Viertel. Die Drogenbanden wurden vertrieben, wer nicht geflohen war, wurde verhaftet, Drogen und Waffen wurden beschlagnahmt. Bis zur Fußball WM 2014 soll die ganze Stadt von den Drogenbanden gesäubert werden.

Polizeieinsatz in Rocinha (Foto:dapd)
Invasion verlief ohne SchüsseBild: dapd

Die Invasion verlief friedlich. Die Sicherheitskräfte mussten keinen einzigen Schuss abfeuern. Brasilianische Politiker bezeichneten die Aktion, jüngster Schritt der groß angelegten Strategie zur Befriedung von Rios Favelas, als großen Erfolg. Allerdings war die Besetzungsaktion tagelang vorher angekündigt worden. Die Drogengangs hatten also genug Zeit, ihre Flucht in andere Stadtteile vorzubereiten.

Neue Gesichter im Elendsviertel

Seit November vergangenen Jahres ist das Viertel von Rios Spezialeinheit BOPE besetzt. Ab März soll die Überwachung und Sicherung der Favela dauerhaft von regulären Polizei-Einheiten übernommen werden. Schon jetzt hat die veränderte Sicherheitslage neue Gesichter in die Rocinha gelockt.

"Es gibt viele Leute, die aufgrund des Drogenhandels früher nicht hierher gekommen sind", sagt Marcos Burgos, Leiter von Mundo Real, einer Nichtregierungsorganisation, die die Entwicklung des Viertels verfolgt. Auch der Erzbischof Dom Orani Tempesta hatte sich vor November 2011 nicht in den Stadtteil getraut. 

Neben den Besuchen von Offiziellen und Würdenträgern wie dem Erzbischof gibt es einen Zustrom von Geschäftemachern aller Art. Die  Gemeindeversammlungen sind inzwischen voll mit Ortsfremden, die versuchen, von den Veränderungen zu profitieren und sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden.

Schon wenige Tage nach der Invasion verkauften Vertreter von Sky TV ihre ersten Abos in der Favela. "Manche Leute meinen, diese Unternehmen würden nur eine vorhandenen Nachfrage befriedigen", sagt Burgos. "Schließlich wollten die Leute ein besseres TV-Angebot." Doch Burgos befürchtet, dass nach der Ausbeutung durch die Drogenhändler jetzt die Ausbeutung durch die legalen Geschäftemacher folgt.

Armut und Krankheit

Die Rocinha liegt in direkter Nachbarschaft zu einigen der teuersten Stadtviertel Rios wie Sao Conrado und Gavea. Trotzdem rangiert die Favela ganz unten, wenn es um die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse geht. Der offene Abwasserkanal am Rande der Favela ist ein ständiges Ärgernis und ein großes Gesundheitsrisiko. Die beiden kleinen Gesundheitsstationen des Viertels können den großen Bedarf der Menschen nicht decken.

Wohnhäuser in der Favela Rocinha, die aufeinander gebaut wurden. (Foto: Sam Cowie)
Wohnhäuser in RocinhaBild: DW/Sam Cowie

Bildung ist ein weiteres großes Problem. Die Alphabetisierungsrate liegt zwar bei 90 Prozent, das entspricht dem brasilianischen Durchschnitt. Allerdings besitzt nur ein Prozent der Bewohner einen Hochschulabschluss.

Schutz vor Spekulanten

"Die Menschen müssen sich unbedingt zusammenschließen, wenn sie eine Verbesserung ihrer Lage erreichen wollen", sagt Seu Martins, der für die Bento Rubiao Stiftung arbeitet. Martins kümmert sich um die Legalisierung der Landrechte von Favela-Bewohnern. "Bisher war das wegen der Drogenhändler nur sehr schwer möglich."

"Die Bewohner des Viertels brauchen Besitztitel. Nur so können sie sich vor Spekulanten schützen", betont Martins. Schließlich lägen die Grundstücke der Favela-Bewohner manchmal in durchaus atraktiven Lagen.

"Außerdem muss die sanitäre Situation verbessert werden. Dann brauchen sie bessere Wege und Straßen, damit auch ältere Menschen sich bequem bewegen können. Und natürlich eine Verbesserung der Bildungssituation."

Staatliche Investitionen

Die Zentralregierung hat bereits in der Vergangenenheit in die Rocinha investiert. Der Stadtteil bekam 2007 im Rahmen eines Wachstumsprogramms Geld von der Regierung. Unter anderem wurde ein Sektor saniert, in dem zuvor eine der höchsten Tuberkulose-Raten des Bundesstaates herrschte.

Rocinhas buntes Rua 4 Viertel war einst eine dunkle 60 cm Gasse mit den schlimmsten Tuberkulose-Raten im Bundesstaat Rio de Janeiro.(Foto: Sam Cowie)
Ein sanierter Teil des ViertelsBild: DW/Sam Cowie

Rund 65 Prozent der Projekte sind inzwischen abgeschlossen. Der Rest aber wurde gestoppt. Grund: Angeblich wurde das Budget bereits überschritten. Und so ist auch die geplante Kindertagesstätte noch immer verbarrikadiert. Bei den Bewohnern sorgt das für Ärger: Sie beklagen schlechte Planung, Misswirtschaft und Korruption. 

Kritik von Human Rights Watch

Das Verhältnis der Bewohner zur Polizei ist schwierig. Noch sind Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen nur schwer vorstellbar. Auch die Menschenrechtsbilanz von Rios Polizei ist schlecht. Auf 23 Verhaftungen kommt nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein Toter. Viele der Opfer seien Favela-Bewohner. Amnesty International hat das Vorgehen der BOPE-Truppe beim Stürmen von Favelas als "exzessiv aggressiv" verurteilt.

"Wir mögen diese Leute nicht", sagt Wesley, Mitarbeiter eines Restaurants. "Die sind total verschlossen, schauen dich an, als ob du ein Krimineller wärst. Nur weil wir sie nicht leiden können, glauben sie, dass wir alle Drogenhändler sind. Es war schlimm hier als die Drogenhändler da waren, aber niemand wurde misshandelt."

Paradoxerweise hat die Besetzung des Viertels durch die Polizei und die Vertreibung der Drogenhändler neue Sicherheitsprobleme geschaffen. Räuber überfielen zum Beispiel ein Elektronik-Geschäft. Unter der Herrschaft der Drogenbarone wurden Überfälle sofort bestraft - die Räuber massiv verprügelt oder gleich ermordet. "Ich fühle mich nicht mehr so sicher wie früher. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt meine Tür verschließen muss," sagt ein Bewohner, der lieber anonym bleiben will. Eines ist klar: Auch nach der Vertreibung der Drogenhändler bleibt noch viel zu tun im größten Slum von Rio de Janeiro.

Autor: Sam Cowie
Redaktion: Nils Naumann