Schikane-Vorwürfe gegen französische Polizei
8. Oktober 2021"Die Polizei hat uns gestern unsere Zelte weggenommen. Die ganze Nacht waren wir wach, weil wir weder Zelt noch Schlafsäcke hatten.” Diese Erfahrung eines 18-jährigen Afghanen findet sich in einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) wieder. Die Menschenrechtsorganisation wirft Behörden um die nordfranzösische Hafenstadt Calais vor, Campbewohner systematisch zu schikanieren.
Dabei geht sie laut Michael Bochenek, einem der Autoren der Studie, auf verschiedene Art und Weise vor. Zum einen würden Massenevakuierungen durchgeführt, bei denen Sicherheitskräfte ganze Zeltlager räumen - auf der Grundlage, dass diese Menschen dort illegal campierten. "Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch, weil Zelte, Planen oder auch Schlafsäcke zerstört oder konfisziert werden und den Menschen keine wirkliche Alternative angeboten wird", sagt Bochenek. Die Menschen würden in der Regel auf der Straße landen und fänden sich anschließend erneut in solchen Camps wieder. Die meisten Notunterkünfte, die die Menschen aufnehmen könnten, sind völlig überlastet.
Viel häufiger als Massenevakuierungen aber finden laut HRW auch sogenannte Routine-Evakuierungen statt: Polizisten würden unangekündigt auftauchen und die Bewohner auffordern, das jeweilige Camp zu verlassen. Oft müssten die Menschen nur ein paar Meter zur nächsten Straße oder einem Parkplatz gehen, währen die Polizei das Camp durchsuche und Gegenstände konfisziere.
"Pure Belästigung"
Dies dauere nicht viel länger als 15 Minuten, habe aber, so Bochenek, einen besonderen Effekt: "Es ist pure Belästigung. Es dient keinem Zweck, außer das Leben dieser Menschen schwer zu machen." Die Organisation Human Rights Observers beschreibt 950 solcher Evakuierungen in Calais allein im Jahr 2020.
Calais galt vielen bis 2016 als Sinnbild der Flüchtlingskrise in Frankreich. Im sogenannten Dschungel, einer provisorischen Zeltstadt lebten bis zu 10.000 Menschen. Für viele Geflüchtete und Migranten war Calais ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Großbritannien. Fünf Jahre später ist es das noch immer. Laut französischer Küstenwache haben in den ersten acht Monaten des Jahres 15.400 Menschen versucht, den Ärmelkanal in Booten zu überqueren. Das sind 50 Prozent mehr als im gesamten Vorjahr.
Großbritannien unterstützt die französische Küstenwache finanziell, um Geflüchtete und Migranten an der Überfahrt zu hindern. Gleichzeitig würden französische Behörden eine Abschreckungsstrategie mit dem Ziel verfolgen, Menschen daran zu hindern, überhaupt nach Nordfrankreich zu kommen, so Menschenrechtsorganisationen wie HRW. Es soll kein neuer Dschungel entstehen.
HRW geht davon aus, dass mehr als 2000 Personen, darunter etwa 300 unbegleitete Minderjährige, in verschiedenen kleineren Lagern in und um Calais campieren. Die Abschreckungsstrategie der Polizei, wie HRW sie nennt, scheint nur teilweise aufzugehen. Die Gendarmerie Nationale, zuständig für die Region, hat bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht auf die Bitte der DW um eine Stellungnahme reagiert.
Zermürbende Polizeipräsenz
Der französische Innenminister Géral Darmanin hob noch im Juli 2021 den Einsatz der Polizei hervor. "Die Anweisungen, die ich gegeben habe, um zu verhindern, dass die Menschen in Calais das noch einmal durchleben müssen, was sie vor ein paar Jahren erfahren haben, war ein robuster Polizeieinsatz", sagte Darmanin. "Dieser robuste Einsatz bedeutet eine sehr starke Polizeipräsenz und Operation alle 24 bis 48 Stunden.”
HRW beschreibt das Vorgehen der französischen Sicherheitskräfte als einen deutlichen Strategiewechsel: Wo früher häufiger physische Mittel wie Tränengas zum Einsatz gekommen seien, liege der Fokus nun darauf, die Migranten mürbe zu machen. Es sei schwer zu verstehen, sagt der Studien-Autor Michael Bochenek, wie Menschen eine so demütigende und erniedrigende Behandlung aushalten können.