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PolitikEuropa

Frankreich macht die Grenzen dicht

Andreas Noll
29. Januar 2021

Den dritten Lockdown hatten die Franzosen erwartet, doch Staatspräsident Macron hat sich anders entschieden. Sein Premierminister kündigte verschärfte Kontrollen der Ausgangssperren an - und Grenzschließungen.

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Paris | Premier Minister Jean Castex kündigt neue Corona Maßnahmen an
Kündigte neue Corona-Maßnahmen an: Premier Jean CastexBild: Benoit Tessier/POOL/AFP

Eine Woche lang hatten Regierungsmitglieder die Franzosen in Interviews auf verschärfte Corona-Maßnahmen vorbereitet, nun hat Premierminister Jean Castex nach der Sitzung eines sanitären Verteidigungsrates das Ergebnis der Beratungen verkündet. Anders als von vielen Beobachtern erwartet, fährt die Regierung das Land nicht wie im Frühjahr und Herbst in einem groß angelegten Lockdown noch einmal runter. "Wir können uns noch eine Chance geben, ihn zu verhindern", so Premier Castex nach der Sitzung. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Ladenzentren in Frankreich mit mindestens 20.000 Quadratmetern Fläche ab Sonntag schließen. Ausnahme gelten lediglich für Lebensmittelgeschäfte.

Außerdem solle das mobile Arbeiten verstärkt werden. Details will die Regierung in der kommenden Woche mit den Sozialpartnern klären. Polizei und Gendarmerie sollen darüber hinaus die Einhaltung der bereits geltenden Ausgangssperre ab 18 Uhr schärfer überwachen. "Unsere Aufgabe ist es, alles einzusetzen, um einen neuen Lockdown zu verhindern. Und die nächsten Tage werden ausschlaggebend sein", erklärte der Regierungschef.

Als Reaktion auf die Verbreitung der Mutationen wird die Einreise aus Ländern außerhalb der Europäischen Union ab Sonntag verboten. Von Reisenden aus EU-Staaten verlangt Frankreich einen negativen PCR-Test. Rund 2000 von derzeit gut 20.000 Corona-Positiv-Fällen am Tag gehen bereits auf die höher ansteckenden Varianten des Virus zurück.

Frankreich Gesundheitsminister Olivier Véran
Ein Arzt als oberster Pandemiebekämpfer: Olivier VéranBild: Jacques Witt/Pool/abaca/picture alliance

Gesundheitsminister Olivier Véran, selbst ausgebildeter Mediziner, hatte die Franzosen bereits am Donnerstag auf harte Entscheidungen vorbereitet. "Wir befinden uns zwar nicht in einer neuen Welle, aber die Infektionen sind auf einem hohen Niveau", analysierte der Minister. Die Zahl der Neuinfektionen hat mittlerweile das Level erreicht, das in Frankreich Ende Oktober, vor dem zweiten Lockdown, herrschte. Mit mehr als 300 Menschen am Tag liegt die Zahl der Toten sogar noch deutlich über dem Wert im Herbst.

Hoher Druck auf das System

Christopher Schlier arbeitet als Intensivmediziner im Krankenhaus der Stadt Colmar. Seit fast einem Jahr bestimmt die Behandlung der COVID-Patienten seinen Alltag. Die Entscheidung zur weiteren Reduzierung der Kontakte findet der Arzt richtig. "Wenn das Gesundheitssystem nicht vollkommen zusammenbrechen soll, dann ist das notwendig. Wir Mediziner haben derzeit leider den Eindruck, kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen", so Schlier im Gespräch mit der DW. Allein in seinem Krankenhaus wurde die Zahl der Intensivplätze zuletzt verdoppelt. "Es wird jetzt darüber nachgedacht, weitere zusätzliche Betten aufzumachen."

Frankreich Die Auswirkungen von Corona in den Städten
Die Krankenhäuser (hier in Bobigny bei Paris) sind erneut an der BelastungsgrenzeBild: Jacques Witt/Pool/abaca/picture alliance

Doch auch mit einem erhöhten Kapazitätsangebot, ist die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung eingeschränkt: "Die Altenheime sind bereits so weit, dass sie gar nicht mehr versuchen, uns COVID-Patienten mit schweren Vorerkrankungen zuzuweisen."

Infektionen im Krankenhaus

Doch nicht nur in den Alten- und Pflegeheimen breitet sich das Virus weiter aus. In einzelnen Stationen des Krankenhauses in Colmar haben bereits 100 Prozent des medizinischen Personals und der Pflege- und Reinigungskräfte eine Corona-Infektion durchgemacht. Trotz aller Hygienemaßnahmen stecken sich auch Kranke dort an: "Hier kommen Patienten mit einem negativen Corona-Test rein und drei, vier Tage später sind auch sie infiziert", berichtet der Arzt. 

Frankreich Christopher Schlier, Intensivmediziner des Krankenhauses Colmar
Intensivmediziner Christopher SchlierBild: Privat

Auch wenn Christopher Schlier an der Notwendigkeit schärferer Beschränkungen für die Bevölkerung nicht zweifelt, der in Deutschland ausgebildete Mediziner warnt zugleich vor den Konsequenzen - vor allem für die sozialen Strukturen. Schon durch die aktuell gültige Ausgangssperre in Frankreich habe die Aggressivität auf der Straße spürbar zugenommen, Ausschreitungen wie in den Niederlanden hält Schlier für denkbar. "Ich sehe etwas ganz dramatisch, und das ist die Müdigkeit der Bevölkerung, die jetzt sagt: 'Warum zwingt man uns jetzt diese Maßnahmen auf? Das bringt sowieso nichts. Wir können das nicht mehr nachvollziehen'." Beobachter erklären die Entscheidung gegen einen Lockdown auch mit der Sorge der Regierung vor einer großen Protestbewegung - und den Folgen für die Wirtschaft, die der französische Staat weit weniger gut auffangen kann als Nachbar Deutschland.

Ausgangssperre reicht womöglich nicht

Die Maßnahmen verschärft hatte die Regierung bereits vor einigen Tagen, als sie die Ausgangssperre im ganzen Land auf 18 Uhr vorgezogen hat. Als lediglich "relativ erfolgreich" bezeichnete Regierungssprecher Gabriel Attal diesen Schritt. Er sei gleichwohl nicht ausreichend gewesen, um die Infektionszahlen dauerhaft zu senken. Trotzdem schrecken Macron und die Regierung vorerst vor einem neuen Lockdown zurück.

Unklar ist bislang, ob die Regierung auch Einschränkungen im Bildungsbereich plant. Am 6. Februar beginnen in Frankreich die Winterferien, die je nach Schulzone bis zum 8. März dauern. Zuletzt wurde darüber diskutiert, die Schulen im ganzen Land auf einmal in verlängerte Ferien zu schicken, um die Infektionszahlen zu senken.

Frankreich Covid-19 | Schulen
Gesellschaftlicher Konsens in Frankreich: Schulen so lange wie möglich offen haltenBild: Lafargue Raphael/abaca/picture alliance

Bildungsminister Jean-Michel Blanquer äußerte sich im Interview mit France 2 allerdings skeptisch zu dieser Idee: "Ich bin mir nicht sicher, ob sich in den Ferien weniger Menschen anstecken als während der Unterrichtszeiten", so der Minister und verwies darauf, dass nach den Herbst- und Weihnachtsferien die Zahl der Infektionen jeweils deutlich angestiegen ist. Eine Entwicklung, die Intensivmediziner Schlier auch für Colmar bestätigen kann. Obwohl die Regierung an das Verantwortungsbewusstsein der Bürger appelliert hatte, feierten viele Familien zusammen Weihnachten und Silvester. "Die Folgen sehen wir zurzeit in den Krankenhäusern", so Schlier.

Frankreich: Corona und Studium

Kampf um die Schulen

Anders als in Deutschland herrscht in Frankreich weitgehende Einigkeit darüber, dass die Schulen von der Verschärfung - so gut es geht - ausgespart werden sollten. Die Erfahrungen vom ersten Lockdown waren dramatisch. Lehrer-Gewerkschaften berichteten von zahlreichen Kindern, zu denen die Pädagogen monatelang keinen Kontakt mehr aufbauen konnten. Hinzu kommt, dass die Schulen auf einen erneuten Distanzunterricht schlecht vorbereitet sind. Die Deutsch-Lehrerin Friederike Riemer, die in einem großen Lycée in Montluçon in Zentralfrankreich arbeitet, kann das bestätigen. Der Hybridunterricht, bei dem sich Präsenz- und Distanzunterricht (ohne Videokonferenzen) für einige Oberstufenklassen abwechseln, habe vielfach dazu geführt, dass sich die Bildungslücken in der Schülerschaft noch vergrößert hätten.

Auch die Lehrer-Gewerkschaften wollen einen längeren Lockdown der Schulen unbedingt verhindern, so Guislane David, Sprecherin der größten Lehrergewerkschaft im Primarbereich im DW-Interview. Die Reduzierung der Klassenstärken ist für sie der bessere Weg.

Frankreich Die Auswirkungen von Corona in den Städten
Muss auch der Einzelhandel bald wieder schließen?Bild: Florent Bardos/abaca/picture alliance

Im Vorfeld der Entscheidung von Präsident und Regierung hatte auch der Verband der französischen Kinderärzte mit einem "Plädoyer für geöffnete Schulen" Position bezogen. Die Kinder seien keine Treiber der Pandemie, lautet die Botschaft der Mediziner. Die in Deutschland mittlerweile in den Medien sehr präsente länderübergreifende "nocovid"-Bewegung, die die Inzidenzen auf deutlich unter 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche begrenzen will, spielt in Frankreich aktuell keine Rolle. "Diese Debatte gibt es bei uns überhaupt nicht", so Christopher Schlier.