Georgien - ein Land im Umbruch
6. Oktober 2018Die geographische Nähe zum Orient - in Tbilissi ist sie kaum wahrnehmbar. Tatsächlich ist Georgiens Hauptstadt eine europäische Metropole, vital und von eigentümlicher Schönheit. An beiden Seiten des Flusses Mtkvari hat sie sich im Laufe der Jahrhunderte ausgebreitet, über Terrassen die Hügel und Hänge hinauf. Darüber thront die wuchtige Festung Nariqala. Kaufleute, Banker und weitgereiste Handwerker haben das Stadtzentrum im 19. Jahrhundert in eine Bürgerstadt umgebaut, mit breiten Straßenzügen und üppigen Stadtresidenzen. Die Altstadt aber durchziehen bis heute kopfsteingepflasterte Gassen. Baugerüste überall. Die typischen, kunstvoll verzierten Balkonhäuser werden nachhaltig restauriert. Tbilissi entsorgt den bröckelnden Schmutz der Sowjetzeit.
Unruhige Vergangenheit
Davit Gabunia, vielfach ausgezeichneter georgischer Dramatiker und Kritiker, verfolgt die Veränderungen der Stadt, des Landes und seiner Bewohner aufmerksam. Wohin steuert die junge Republik - nach Jahrzehnten sowjetischer Okkupation? Und wie geht sie mit ihrer Vergangenheit um?
"Ich denke", sagt Gabunia, "dass wir noch über mehrere Jahre Stabilität und Frieden und wirtschaftlichen Aufschwung erleben müssen, bevor wir anfangen, uns mit unserer Vergangenheit zu beschäftigen."
Die Vergangenheit Georgiens, das sind Jahrhunderte der Fremdherrschaft, der Ausbeutung und Unterdrückung. Die Vergangenheit, das sind Stalins Unrechtssystem, sowjetische Propaganda und schließlich die schwere Zeit nach der Unabhängigkeit 1991: instabile Machtverhältnisse, eine am Boden liegende Wirtschaft, Korruption und Gewalt sowie der Kampf um die abtrünnigen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien.
Diese überhitzte und dauerhaft angespannte politische Situation, sagt Davit Gabunia, habe die Menschen so sehr beschäftigt, dass sich niemand in Ruhe mit der Vergangenheit auseinandersetze. "Obwohl dort doch die Wurzeln aller Probleme zu finden sind."
Davit Gabunia: "Farben der Nacht" - Kammerspiel vor brisanter Kulisse
Eben deshalb ist die Literatur Georgiens so aufschlussreich. Denn sie schweift durch das kleine Land und seine Geschichte, erzählt von den Menschen und blickt unerschrocken in Abgründe und auf Umbrüche.
"Farben der Nacht" lautet der Titel von Davit Gabunias erstem Roman, der kürzlich auf Deutsch erschienen ist: ein geschickt gebautes Kammerspiel, ein Krimi - und eine Momentaufnahme der georgischen Gesellschaft, in der Homosexualität tabuisiert wird, der Machismo weit verbreitet ist und jeder sich selbst am nächsten zu sein scheint.
Im Haus gegenüber ist ein Mann umgebracht worden. Surab hat das gesehen, aus seiner Wohnung. Denn jede Nacht hat er auf dem Balkon gestanden und geguckt, auf den neuen Nachbarn und dessen älteren Liebhaber. Nun ist der hübsche Junge tot. Und Surab handelt. Er will endlich wieder einen Job und weiß auch schon, wie er den bekommen kann.
Davit Gabunia hat dieses Drama im Spätsommer des Jahres 2012 verortet; die damaligen politischen Ereignisse dienen ihm dabei als Kulisse: Im Oktober 2012 sollen Parlamentswahlen stattfinden. Viele Georgier sind unzufrieden mit dem zunehmend autoritären Regierungsstil des amtierenden Präsidenten Michail Saakaschwili, dennoch sehen ihn Umfragen noch im Sommer als klaren Wahlsieger.
Aufbegehren und Aufbruch
Dann kursieren in den Medien Videos, die belegen, dass in Georgiens Gefängnissen gefoltert wird. Zehntausende gehen auf die Straße. Das Land droht zu explodieren.
Am 1. Oktober der Machtwechsel. Der Oligarch und Milliardär Bidsina Iwanischwili wird Premierminister, er bekräftigt einen pro-westlichen Kurs. Ein Jahr später tritt er freiwillig zurück, einflussreich ist er bis heute. Seine Residenz: ein Glaspalast hoch über Tbilissi, entworfen von dem japanischen Stararchitekten Shin Takamatsu.
Die georgische Kultur, sagt Davit Dabunia, sei eine Kultur der Extreme. Er aber mag keine Extreme. Deshalb sind seine Protagonisten ganz normale Menschen. Die aber katapultiert er in Ausnahmesituationen und beobachtet, was dann mit ihnen geschieht. Unbedingt lesenswert!
Kaum etwas deutet im Stadtbild von Tbilissi auf die Eruptionen der jüngsten Vergangenheit hin. Das Gesamtkunstwerk ist höchst lebendig und ständig in Bewegung. Monotonie herrscht eher in den Außenbezirken.
Nana Ekvtimishvili: "Das Birnenfeld" - Gewalt sät Gewalt
Nana Ekvtimishvili ist jenseits der Stadtgrenze aufgewachsen, in einem Dorf bei Tbilissi, in direkter Nachbarschaft zu einem Kinderheim - einem Relikt aus Sowjetzeiten. Kinder, die keiner wollte, sind hier aufgewachsen, in bitterer Armut - verdreckt, missbraucht,verroht. "Debile" hat man sie abschätzig genannt und mit Gewalt wiederum Gewalt in ihnen gesät.
Nana Ekvtimishvili hat als Kind mit diesen Heimkindern gespielt, hat auch gehört, wie sie lachend von dem Ritual im Birnenfeld erzählt haben. Dass Mädchen, die neu ins Heim gekommen waren, dort von anderen Kindern vergewaltigt wurden. Ihre Kindheitserinnerungen hat sie gut 20 Jahre später in einem verstörenden Roman verarbeitet, nachdem sie einstige Spielkameraden zufällig wieder gesehen hat - bettelnd an der Straße.
Starke Frauen
Den Ungeliebten, den Beschädigten hat sie damit eine Stimme gegeben und mit der jungen Leila eine starke Protagonistin geschaffen, die sich zornig gegen all die Erniedrigungen wehrt.
In Westeuropa hat sich Nana Ekvtimishvili bislang vor allem als Filmemacherin einen Namen gemacht. Studiert hat sie in Potsdam, aber die Geschichten, die sie erzählt, spielen in Georgien. Und immer stehen Frauen im Mittelpunkt. Frauen, die zupacken, die Veränderungen wollen. Das Schlimmste und Tückischste, was die Sowjetunion hinterlassen habe, sagt Nana Ekvtimishvili, sei, dass die Leute nicht analysierten: "Dass die Menschen nicht gelernt haben, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, und nicht glauben, sie könnten was ändern. Weil die Leute nicht gelernt haben, mit eigenen Händen etwas zu ändern."
Archil Kikodze: "Der Südelefant" - Geschichte einer Identitätskrise
Was bringt die Zukunft? Und haben alle in ihr Platz? Der Schriftsteller, Fotograf, Schauspieler und Reiseführer Archil Kikodze ist viel im Land und immer wieder in Tbilissi unterwegs. Ein Wanderer zwischen den Welten, ein nachdenklicher Beobachter. Sein Roman "Der Südelefant", in Georgien bereits mehrfach ausgezeichnet und nun ins Deutsche übertragen, führt den Ich-Erzähler einen Tag lang durch Tbilissi und in zahlreichen Rückblenden bis in die 1920er-Jahre zurück. Die Geschichte einer Identitätskrise erzählt Archil Kikodze, voller ethischer Konflikte und Fragen nach dem richtigen oder falschen Leben, nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Die Zeit, in der Georgien Teil der Sowjetunion war, sagt er, habe die Gesellschaft beschädigt. Spuren hat sie in wohl jeder Familiengeschichte hinterlassen. Deshalb ist sein Protagonist so, wie er ist, Sohn eines korrupten Bosses der sowjetischen Schattenwirtschaft und einer bildungsbürgerlichen Georgierin. "Ich habe ihm dieses schwere Erbe gegeben, das er sein ganzes Leben lang tragen und mit dem er kämpfen muss," erklärt Archil Kikodze.
Mit Macht nach Westen
"Der Südelefant", sagt er, das sei die Geschichte seiner Generation. Einmal, nach einer Lesung, sei ein junges Mädchen zu ihm gekommen und habe sich bedankt. Nun verstehe sie, warum ihr Onkel so viel trinke. Und warum ihr Nachbar so ist, wie er ist. Wenn es friedlich bleibe in Georgien, sagt Archil Kikodze, dann werde sich die Gesellschaft Schritt für Schritt entwickeln. Die jungen Menschen seien schon anders, offener, bunter, freier. "Aber meine Generation hat viele Komplexe, die wir unser ganzes Leben lang mit uns rumtragen."
Heute strebt Georgien mit Macht nach Westen. Englisch hat Russisch als erste Fremdsprache abgelöst, in die EU kann man ohne Visum reisen. Georgien, ein Land im Umbruch. Seine Literatur - eine Entdeckung!
Davit Gabunia: Farben der Nacht, Rowohlt, 192 Seiten.
Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld, Suhrkamp, 221 Seiten
Archil Kikodze: Der Südelefant, Ullstein, 272 Seiten