Religion im türkischen Wahlkampf
30. Juli 2014Kurz vor der Wahl am 10. August sorgt der Vorstoß eines Erdogan-Vertrauten zur Stärkung islamischer Werte in der Gesellschaft für Furore. Vizepremier Bülent Arinc klagte über einen Sittenverfall in der Türkei und riet als Gegenmittel zu islamischer Tugendhaftigkeit – die sich bei Frauen unter anderem darin äußere, in der Öffentlichkeit sittsam aufzutreten und nicht laut zu lachen. Regierungsgegnerinnen organisierten daraufhin im osttürkischen Tunceli eine öffentliche Lach-Demonstration. Arinc habe die Vision der Regierung für das 21. Jahrhundert skizziert, kritisierte der Oppositionspolitiker Umut Oran.
Als haushoher Favorit für die Wahl setzte Erdogan selbst gleich zum offiziellen Auftakt seiner Präsidentschaftskandidatur Anfang Juli ein unübersehbares Zeichen. Nach Bekanntgabe seiner Bewerbung begann er seine erste Rede als Kandidat der Regierungspartei AKP mit einer Anrufung Gottes. Er beendete seine Ansprache mit einem Zitat aus dem Koran.
Zwei von drei Wählern bezeichnen sich als fromm
Erdogan und die AKP setzen seit mehr als einem Jahrzehnt auf die Gefolgschaft der religiös-konservativen Türken. Im Präsidentschaftswahlkampf betont Erdogan die islamischen Themen noch mehr als sonst. Aus gutem Grund, sagt Meinungsforscher Murat Gezici im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Mehr als zwei Drittel der türkischen Wähler bezeichnen sich selbst als fromme Muslime".
Und mit der Betonung seiner islamischen Frömmigkeit spricht Erdogan noch ein wichtiges Wählersegment an – die Frauen. Laut Gezici sind die Türkinnen nämlich im Durchschnitt gläubiger als die Männer. "Und 64 Prozent der AKP-Wähler sind Frauen", sagte er. Das bedeute: "Nach diesen Kriterien ist Erdogan der ideale Kandidat."
Frommer Herausforderer mit Problemen im eigenen Lager
Die beiden großen Oppositionsparteien, die säkuläre CHP und die nationalistische MHP, haben diesen Trend erkannt. Ihr gemeinsamer Kandidat und Herausforderer des Ministerpräsidenten ist Ekmeleddin Ihsanoglu, der ehemalige Generalsekretär der islamischen Weltorganisation OIC. Damit kann auch Ihsanoglu glaubhaft von sich sagen, ein gläubiger Muslim zu sein. Das mache es für die AKP schwieriger, ihn wie andere CHP-Vertreter in der Vergangenheit als gottlosen Säkularisten anzugreifen, sagt Meinungsforscher Gezici.
Diese "islamischen Pluspunkte" Ihsanoglus werden allerdings bei Teilen der CHP-Anhängerschaft wiederum zu einer Schwäche, weil viele säkularistische Wähler einen frommen Kandidaten ablehnen. "Ihsanoglu ist ein Leichtgewicht", sagte der Istanbuler Politologe Sahin Alpay der Deutschen Welle. "Er könnte sogar einige CHP-Wähler davon abhalten, zur Urne zu gehen, und er könnte Erdogan zusätzlich ermutigen." In den Umfragen liegt Erdogan mit mehr als 50 Prozent der Stimmen weit vor Ihsanoglu, der bei etwa 40 Prozent gesehen wird.
Abschaffung des Pflichtfachs Religion als Wahlkampfforderung
Wie wichtig die Religion im Wahlkampf ist, verdeutlicht auch die Taktik des dritten Präsidentschaftskandidaten, des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas. Statt mit Erdogan und Ihsanoglu in Sachen Frömmigkeit zu konkurrieren, bemüht er sich intensiv um die nicht-religiöse Wählerschaft, die sich von den Kandidaten der großen Parteien nicht vertreten fühlt. So fordert Demirtas im Wahlkampf eine Abschaffung der Pflicht zur Teilnahme am Religionsunterrricht in staatlichen Schulen. Diese Pflicht passe nicht zu einem laizistischen Staat und zu den Freiheitsrechten des Individuums. Demirtas liegt in den Umfragen zwischen sechs und acht Prozent.
Mit seiner Linie hat sich Demirtas die Unterstützung eines Teils der Aleviten gesichert, einer islamischen Minderheit von bis zu 20 Millionen Menschen, die sich von der sunnitischen Mehrheit in der Türkei diskriminiert fühlt. Traditionell gehören die Aleviten zur Stammwählerschaft der CHP, doch viele gehen auf Distanz zum frommen Sunniten Ihsanoglu. Erdogan hat noch größere Probleme, die Aleviten für sich zu erwärmen: Einer der wichtigsten Alevitenverbände schlug kürzlich die Einladung des Premiers zu einem Treffen aus.