Fotos aus Fukushima
22. Dezember 2015Große Augen mit leeren Blicken. Gesichter hinter Stoffmasken verbarrikadiert. Apathisch wirkende Arbeiter in Schutzanzügen, die in einer Landschaft aus Trümmern nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Und die versuchen, nur irgendwas aufzuräumen, weil der Gehorsam es von ihnen verlangt.
Mäppchen auf Pulten in einem verlassenen Klassenzimmer und ein aufgeschlagenes Schreibheft, das vergeblich auf die Rückkehr seines Besitzers wartet. Keine Gruppen, keine Gesellschaften, kein Lachen. Isolation in menschlicher Verkleidung. Die Hoffnungslosigkeit spricht Bände. So sieht Leben in Fukushima aus.
Im Hintergrund der Bilder sprießt vielfach Unkraut. Soll Gras die Katastrophen überdecken? Überall Säcke mit kontaminierter Erde. Teilweise aufgeplatzt. Und Berge von Schutt und Zerstörung, wie nach einem Krieg. Wohin mit dem verstrahlten Dreck? Bertram Schiller liefert diese stummen Zeugnisse aus einer unwirtlichen Gegend.
Seit Dezember 2011 reist der Deutsche regelmäßig die gut 700 Kilometer von Osaka in die verstrahlte Präfektur Fukushima - mit Genehmigung der Behörden. Hinterm Steuer und bei seiner Arbeit mit der Kamera trägt er den üblichen Mundschutz aus Zellstoff, mit dem Japaner sich gegen eine mögliche Ansteckung durch Krankheitserreger schützen. Dies ist der Versuch, sich die Verseuchung durch radioaktive Strahlen vom Leib zu halten.
"Die Fenster sind geschlossen. Die Lüftung ist ausgeschaltet", sagt Schiller. Es klingt bitter. Was er im Falle einer Autopanne tun würde? "Man darf nicht anhalten, nicht langsam fahren. Dann kommt sofort die Polizei."
An zwei Stellen gebe es Geigerzähler, aber die Anzeigen entsprechen nicht den realen Werten. Schon 20, 30 Meter weiter sei das Gebiet deutlich verstrahlter, hat Bertram Schiller erfahren. Seine Fotos macht er trotzdem nicht aus dem Auto heraus. "Ich steige aus und fotografiere so lange bis die Polizei kommt und mich zum Weiterfahren auffordert."
"Leben mit Fukushima" heißt Schillers Dokumentation, die den Wandel in Bildern festhält. Dafür wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten "International Photography Award".
Zeitzeuge mit politischer Botschaft
2006 kam der ausgebildete Bildhauer nach Japan, um die Kultur und die Sprache seiner Frau kennenzulernen. Die Familie ist geblieben. Japan hat sich verändert seit der Verkettung der Katastrophen am 11. März 2011, mit dem schwersten Erdbeben und dem Tsunami, in deren Folge das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi schwer beschädigt wurde. Große Mengen radioaktiven Materials kontaminierte Menschen, Tiere, Pflanzen, Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel. 260 Städte wurden zerstört. Noch heute schwanken die Zahlen der Toten zwischen 16.000 und 19.000, weil 2500 Menschen weiterhin spurlos verschwunden sind.
170.000 Menschen mussten nach dem größten anzunehmenden Unfall, dem Super-GAU, in Sicherheit gebracht werden. "Es gibt Gebiete, die liegen zwar 50, 60 Kilometer vom Reaktor in Daiichi entfernt, doch die radioaktive Strahlung ist dort noch enorm hoch - trotz aufwendiger Säuberung", sagt der Fotograf. "Die Bewohner wurden erst mit einmonatiger Verzögerung evakuiert. Und erst ein Jahr nach der Katastrophe wurde die Region gesperrt. Bis dahin konnte sich dort jeder uneingeschränkt bewegen."
Inzwischen will die Regierung in Tokio sogar, dass die Bewohner in ihre Heimat zurückkehren. Die gesundheitlichen Folgen seien längst nicht absehbar. "Bisher wurden zwar 134 Krebsfälle bei Kindern diagnostiziert. Aber es kann kein Bezug zum Reaktorunfall hergestellt werden, denn die Regierung macht nichts, um Vergleichswerte mit anderen Präfekturen zu ermitteln."
Verschweigen und Verdrängen statt Aufarbeiten
Für Schillers Fotos braucht es keinen Ton, keine weiteren Erklärungen. Was kann es in einer Landschaft aus Trümmern und Tristesse anderes geben als beklemmende Stille, die durch die Bilder vermittelt wird? Und trotzdem hat der Fotokünstler einen Wandel erfahren. "Zuerst gab es nichts dort. Inzwischen sieht man vereinzelt Menschen, und die Reisfelder werden wieder bepflanzt. Öffentliche Verkehrsmittel fahren, Kinder gehen zur Schule. Straßen werden repariert, Stromleitungen verlegt."
Die Belastung der Menschen sei allgegenwärtig zu spüren. Jedes Gespräch drehe sich um die Folgen des Unfalls, die Lasten, die jeder zu tragen habe. "Aber viele möchten nicht weg, können nicht weg." Er erfahre Zweckoptimismus, höre Glaubenssätze wie "Mir passiert nichts. Die Strahlung ist nicht so hoch. Ich bleibe gesund." Die Gespräche mit den Betroffenen bereiten ihm Schwierigkeiten, weil er als Außenstehende die Gefühle der Menschen, die Motivation in der verstrahlten Region zu bleiben, nur schwer nachvollziehen könne, gibt Schiller zu.
Die Stimmung hat sich geändert
Inzwischen lassen Einheimische ihn spüren, dass er nicht mehr willkommen ist. "Bei meinem letzten Besuch wollten viele Menschen nicht mehr fotografiert werden. Sie wollen nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten."
Schiller beschreibt den Fall eines Paares, das bei der Evakuierung eine leitende Funktion übernommen hatte. Nachdem das Interview im Fernsehen ausgestrahlt wurde, wurde deren Tochter in Tokio als "Evakuierte" schikaniert. "Andere sagen, sie wollen nicht, dass jemand von außen kommt und mit den Fotos der Opfer in dem zerstörten Gebiet sein Geld verdient."
Den Menschen fehlt es an Unterstützung, um an anderer Stelle ein neues Leben zu starten. Die Regierung verspreche den Bewohnern, in absehbarer Zeit in ihre alten Wohngebiete zurückkehren zu können, obwohl die radioaktive Strahlung dies objektiv nicht zulasse. Es gebe auch dekontaminierte Gebiete, in denen die Werte erneut angestiegen seien, sagt Schiller.
Trotzdem setzt Japan weiter auf Atomkraft und er auf die Wirkung seiner Bilder.