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Fotoausstellung "Miss You" tourt Open Air

Sarah Hucal
3. März 2021

Fotografen der Agentur "Ostkreuz" wollen die Künstler im Lockdown wieder sichtbar machen: In Berlin, Hamburg und Baden-Baden sind ihre Portraits nun in Leuchtkästen zu besichtigen.

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Coronavirus
Bild: Florian Gaertner/photothek/imago images

Bevor der Lockdown das Kulturleben in Deutschland 2020 zum zweiten Mal lahmlegte, ging die Berliner Komikerin Erika Ratcliffe jede Woche auf Tour. Von der Bühne aus erzählte sie einem begeisterten Publikum live ihre Witze und Geschichten. Inzwischen lebt sie von ihren Ersparnissen und einem Schreibjob. Und sie überlegt ernsthaft, den Beruf zu wechseln. "Viele Leute machen Online-Comedy-Shows auf Zoom oder per Livestream, aber ich glaube nicht, dass das funktioniert. Ich brauche die Reaktion des Publikums", sagt sie im DW-Interview.

Ratcliffe ist eine der vielen künstlerisch arbeitenden Solo-Selbstständigen, deren Leben seit Beginn der Corona-Pandemie vollständig auf den Kopf gestellt wurde. Ihre berufliche Zukunft als Comedian ist zunehmend in Frage gestellt, vor allem seit die Kulturbranche erneut einen Lockdown verkraften musste - mit enormen finanziellen Einbußen.

Klingelknopf der Berliner Agentur "Ostkreuz".
Die Berliner Fotoagentur "Ostkreuz" steht für hochwertige Dokumentarfotografie

Einige Branchen in Berlin hat es besonders hart getroffen: Die Club-Szene, in der noch vor einem Jahr Nachtschwärmer bis in die frühen Morgenstunden ohne Abstandsregeln getanzt haben, wird nach Angaben der Berliner Clubkommission voraussichtlich erst Ende 2022 den normalen Betrieb wieder aufnehmen können.

Solidarität mit den Künstlern

"Miss You" heißt eine engagierte Fotoausstellung, die von der legendären Berliner Agentur "Ostkreuz" initiiert wurde. Sie soll all die Künstlerinnen und Künstler sichtbar machen, die in dieser Pandemie schwer um ihre Kreativkraft und ihre Kunst zu kämpfen haben. Präsentiert wird sie in drei Städten: Berlin, Hamburg und Baden-Baden - und zwar mitten in der Stadt als Open-Air-Ausstellung.

Zwei Wochen lang sind die Porträts von 52 Schauspielern, Musikern, Tänzern, DJs, bildenden Künstlern und anderen Kreativen öffentlich zu sehen. Alle wurden in einer selbst gewählten, persönlichen Corona-Abgeschiedenheit fotografiert. Präsentiert werden die Arbeiten der "Ostkreuz"-Fotografen weithin sichtbar in großformatigen Leuchtkästen.

Comedian Erika Ratcliffe zieht einen Kaugummi aus dem Mund nach oben in die Länge.
Comedian Erika Ratcliffe im selbstinszenierten Corona-Langeweile-ModusBild: Sebastian Wells/OSTKREUZ

Die höchst kreative Ausstellung versteht sich als "Lebenszeichen der Künstler und als Aufruf des Publikums an die Künstler". Aufgeworfen werden damit auch Fragen nach dem Stellenwert der Kunst in unserer Gesellschaft. "Ich denke, es ist politisch sehr wichtig, dass wir die Kunst nicht komplett stilllegen", sagt Kuratorin Susanne Rockweiler, die die Ausstellung mitorganisiert hat.

Nachdem im November 2020 Museen, Theater, Opernhäuser und auch die Kleinkunstbühnen erneut geschlossen wurden, hatte sie das dringende Bedürfnis, schnell einen neuen Weg zu suchen, um Kunst und Künstler wieder an die Öffentlichkeit zu bringen: "Wenn Politiker, Virologen und Wissenschaftler entscheiden, dass ein weit gehender Lockdown besser sei, dann müssen wir uns abschirmen", sagt Rockweiler. "Trotzdem denke ich, dass es die Stärke der Kunst ist, immer wieder neue Wege zu finden, um einen Austausch und Dialog mit dem Publikum zu ermöglichen - und damit neue Perspektiven anzubieten."

Sind Künstler systemrelevant?

Der deutsch-ghanaische Konzeptkünstler Philip Kojo Metz, der zur Zeit eine geplante Ausstellung in Togo in Westafrika vorbereitet, hat das Gefühl, dass die gesellschaftliche Bedeutung von künstlerischer Arbeit einfach nicht gesehen wird: "Es ist eine pandemische Gesundheitskrise und natürlich müssen wir etwas dagegen tun. Aber ich fand es von Anfang an seltsam, dass Künstler, Musiker und alle, die im kulturellen Bereich arbeiten, in dieser Coronakrise nicht als 'systemrelevant' angesehen werden."

"Kultur gehört zu einer freien und demokratischen Gesellschaft. Warum? Weil es für eine funktionierende Demokratie wichtig ist, Alternativen zu präsentieren und eine breite Vielfalt an Meinungen zu haben", sagt er im DW-Interview. Er sei in der glücklichen Lage, dass er im Corona-Jahr 2020 nur ein Drittel seiner geplanten Projekte verloren habe.

Eine Tänzerin des Berline Staatsballetts übt Spitzentanz zuhause vor ihrem Bett.
Privat-Wohnung als Übungsraum: Auch die Tänzerinnen des Berliner Staatsballets können nicht mehr auf die BühneBild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Online-Performances, digitale Führungen durch Ausstellungen oder live gestreamte Konzerte, das sind derzeit die einzigen Möglichkeiten für Künstler, sichtbar zu bleiben. Doch die zögerliche Digitalisierung in der Kulturszene bringt neue Herausforderungen mit sich. Die Tänzerin und Choreografin Carolin Jüngst hat ihre neuste Tanzperformance deshalb gleich so modifiziert, dass das Digitale von vorneherein Teil ihrer Arbeit ist: als Dokumentar- und Experimentalfilm über das Tanzstück.

Digitale Proberäume fürs Ballett

"Für die Tanzszene ist es immer noch die Frage, ob wir mehr in digitale Formate investieren sollten oder nicht", erläutert sie gegenüber der DW. Dieses Streben nach Sichtbarkeit führe im Grunde dazu, dass sie sich noch isolierter fühle. Eine Online-Performance sei einfach kein Ersatz für das ganz persönliche Erlebnis: "Es ist kein bleibendes Lebensereignis, kein Ort des Austauschs oder der Begegnung mit Menschen", ergänzt sie.

Wie viele selbstständige Künstler macht sich Jüngst Sorgen über ihre finanzielle Situation und ihre berufliche Zukunft. Die Choreografin hat manchmal schwer zu kämpfen, um sich die Motivation zu erhalten, wieder neue Tanzstücke auf die Beine zu stellen. Es sei enorm schwierig, sich durch all die Coronavirus-Auflagen zu navigieren. Ständig spüre sie diesen Druck, jeden Job anzunehmen, der ihr über den Weg laufe – nur aus Angst um die Zukunft. "Ich glaube, jeder ist besorgt, dass es bald finanziell noch enger wird, und dass die Mittel vom Staat nur zur Verfügung gestellt werden, weil wir mitten in der Corona-Krise stecken", sagt sie - und verweist auf die hart erkämpfte staatliche Förderung für unabhängige Künstler im letzten Jahr.

Foto von Rirkrit Tiravanija, MORGEN IST DIE FRAGE ( Studio Berlin 2020)
Der Schriftzug "MORGEN IST DIE FRAGE" hängt an der Fassade des Technoclubs Berghain (Foto von Rirkrit Tiravanija)Bild: Rirkrit Tiravanija

Tatsächlich werde die Kulturszene voraussichtlich "länger als andere Branchen brauchen, um aus der Krise zu kommen", heißt es in einer aktuellen Studie des Bundes-Kompetenzzentrums für Kultur- und Kreativwirtschaft. Die anhaltende Pandemie könnte für freischaffende Künstler, Tänzer und Musiker im Jahr 2021 zu Umsatzeinbußen von mehr als 30 Milliarden Euro führen.

Hoffnung hält bei der Stange

Musikerin Cristina Gómez Godoy hofft vor allem, dass das Publikum keine Angst hat, in die Theater und Konzertsäle zurückzukehren - wenn sie dann wieder öffnen dürfen. "Ich denke, die Leute sehnen sich nach Live-Erlebnissen. Und ich hoffe, dass es einen neuen Aufschwung gibt, wenn wir wieder mit Konzerten anfangen", sagt die Oboistin der DW. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Adaption: Heike Mund