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Forscher belegen mehr als 40.000 Nazi-Lager

Clara Walther8. März 2013

42.500 Zwangslager soll es nach neuesten Studien während der NS-Zeit gegeben haben. Das sind sieben mal so viele, wie bislang angenommen. Die Vorstellung, dass "niemand etwas gewusst habe", ist absurder als je zuvor.

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Mitglieder des Zentralrates der deutschen Sinti und Roma passieren das Tor zur KZ-Gedenkstaette Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin mit dem zynischen Spruch "Arbeit macht frei" auf ihrem Weg zu einer Gedenkfeier fuer die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten Sinti und Roma, am Freitag, 15. Dezember 2006. (AP Photo/Sven Kaestner)
Bild: AP

"Ich finde es schon erstaunlich", sagt der US-Historiker Martin Dean, "dass man 70 Jahre nach Kriegsende immer noch neue Lagerarten findet und auf neue persönliche Geschichten über den Holocaust stößt". Der Forscher vom Holocaust Memorial Museum in Washington sammelt seit 13 Jahren Fakten. Fakten, die Historiker in ganz Europa, Israel und der USA in Einzelarbeit recherchiert haben, die auf lokaler Ebene oft bekannt waren - und die in einer Gesamtdarstellung bislang fehlten. Dean interessiert sich für das große Ganze. Und genau das macht die neuesten Forschungsergebnisse des Holocaust Museums so interessant: Denn Deans Team hat herausgefunden, dass die Dichte an Zwangslagern sehr viel größer war als bislang angenommen. Den Hochrechnungen zufolge soll es etwa 42.500 Lager in Europa gegeben haben - bisher war die Wissenschaft nur von etwa 7000 Lagern ausgegangen.

30.000 Lager für Zwangsarbeiter

Deans Studien haben für Aufsehen gesorgt. Die New York Times hatte zuerst über die neuen Erkenntnisse berichtet. Es folgte eine Flut weiterer Zeitungsartikel. Plötzlich ist klar: In ganz Europa wurden Menschen vom NS-Regime zwangsweise kaserniert. Oft unter unmenschlichen Bedingungen: Folter und Hunger war in vielen Lagern an der Tagesordnung. Etwa 20 Millionen Gefangene sollen betroffen gewesen sein. Dabei erfüllten die NS-Lager ganz unterschiedliche Zwecke: 30.000 Camps in Europa gab es alleine für Zwangsarbeiter. Daneben existierten 1150 jüdische Ghettos, 980 Konzentrationslager, 1000 Kriegsgefangenenlager, 500 Bordelle für Zwangsprostituierte. Hinzu kamen zahlreiche Lager, die darauf abzielten, Gefangene "einzudeutschen", sie sozusagen zu "arischen" Deutschen zu erziehen, Frauen zu Abtreibungen zu zwingen, psychisch Kranke in Euthanasie-Aktionen zu ermorden und Häftlinge für den Transport in die Todeslager zu sammeln.

Auschwitz Überlebenden, denen Zahlen auf die Arme tätowiert wurden. Coypright: Privat Geliefert von: Eliran Rubi
Auschwitz-Überlebende, denen Zahlen auf die Arme tätowiert wurden.Bild: Ayal Gelles

Lager wurden flexibel genutzt

Dean und sein Team widmen sich derzeit vor allem der Erforschung von Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlagern. Es ist eine mühsame Arbeit. Denn die Forschungsmaterie bleibt auch 70 Jahre nach Kriegsende unübersichtlich: Nicht selten wurden Lager nur für einige Monate für einen bestimmten Zweck genutzt. Dann wechselte ihre Funktion.

Diese Beobachtung machten die Wissenschaftler zum Beispiel bei den von der Gestapo geführten "Arbeitserziehungslagern". In erster Linie sollten diese Camps der "Disziplinierung" von Arbeitskräften dienen. Doch oft wurden sie auch anders genutzt: Zum Beispiel als Straflager für polnische Zivilisten. Oder als Durchgangslager für italienische Juden auf dem Weg in die Konzentrationslager. "Wenn man als Wissenschaftler nur die eine Funktion beschreibt, ist das nicht ganz richtig", erklärt Dean im Gespräch mit der Deutschen Welle. Jedes Lager hat seine eigene Geschichte. Verallgemeinerungen sind kaum möglich. Bei 42.500 Lager erstreckt sich für Historiker hier also ein Forschungsgebiet von gewaltigem Ausmaß.

Doch nicht nur die Wissenschaft darf sich neue Fragen stellen. Auch viele Deutsche dürften bezüglich der Vergangenheit ihrer Großeltern ins Grübeln kommen: Ist es wirklich möglich, dass Oma und Opa von fast 43.000 Lagern in Europa nichts wussten? Konnten 30.000 Arbeitslager einfach übersehen werden? Auch Dean hält das für unwahrscheinlich.Lager als Erfahrung im Kriegsalltag

!!!Sonderformat!!! Das Bild ist höher als das Normalformat. --- ***Das Bild darf nur in Zusammenhang mit einer Berichterstattung über die Studie "Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933-1945" vom United States Holocaust Memorial Museum verwendet werden.*** --- 2013_03_07_ghettos_osteuropa.psd
Karte vom United States Holocaust Memorial Museum über Nazi-Lager in Osteuropa

Deutsche Wissenschaftler sind von Deans Forschungsergebnissen nicht überrascht. Der Historiker Christoph Dieckmann vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt hat die Amerikaner bei ihrem Forschungsprojekt unterstützt. Erst kürzlich erhielt er für seine Holocaust-Arbeit den "Yad-Vashem International Book Prize". "Die Forschungen aus den USA bestätigen, dass die Lagergesellschaft Teil des Kriegsalltags war", erklärt Dieckmann. "Und wenn wir unsere Großeltern fragen, dann kannten die alle Zwangsarbeiter." In den Jahren 1943/44 seien zwanzig bis dreißig Prozent aller Arbeitskräfte im Deutschen Reich Zwangsarbeiter gewesen - die meisten von ihnen lebten in Lagern.

Dass über dieses Kapitel in der Öffentlichkeit nur selten gesprochen wurde, wundert Dieckmann nicht. Wie die US-Forscher ermittelt haben, gab es auch mehr als 500 Wehrmachtsbordelle, in denen junge Frauen zur Prostitution gezwungen wurden. "Die Wehrmacht, das waren auch unsere Großväter", erklärt Dieckmann. "Und haben unsere Großväter uns mal von Bordellen erzählt? Nein!"

Die Entwicklung des Holocaust verstehen

Dieckmanns Spezialgebiet ist die Erforschung Litauens während der NS-Zeit. Der Historiker hat herausgefunden, dass es auch in Litauen über 100 jüdische Ghettos gegeben hat - weit mehr als lange Zeit angenommen. 100.000 Menschen pferchten die Deutschen hier zusammen - ohne einen genauen Plan: Wie sollten die Juden in den Ghettos versorgt werden? Wer sollte sie überwachen? Die deutsche und die litauische Verwaltung seien überfordert gewesen, so Dieckmann. Und das mit fataler Wirkung: Die Besatzer beschlossen, dass die Juden als "Feinde des deutschen Reiches" ihr Lebensrecht verspielt hätten. Bis zum Oktober 1941 wurden die ländlichen Juden in Litauen vor Ort ermordet. Dies alles geschah schon Monate, bevor mit der planmäßigen Deportation von Juden aus ganz Europa in die Vernichtungslager begonnen wurde.

Historiker Christoph Dieckmann vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt. Foto: Fritz Bauer Institut
Christoph Dieckmann vom Fritz Bauer Institut in FrankfurtBild: Christoph Dieckmann