Flüchtlingskrise im Libanon: "Das Geld reicht nicht"
14. August 2015DW: Herr Carboni, wie ist zurzeit die Lage der Flüchtlinge im Libanon?
Fabrizio Carboni: Es ist für sie sehr schwierig dort. In den vergangenen drei bis vier Jahren hat der Libanon rund 1,2 Millionen vom UNHCR registrierte Flüchtlinge aufgenommen. Schon vor deren Ankunft waren das Gesundheitssystem und die Wasser- und Stromversorgung im Libanon schlecht. Jetzt ist die Lage unerträglich geworden. Die Spenden lassen nach, weil es so viele Krisen auf der Welt gibt. Jemen, Nepal, Ebola – das sind alles Krisen in diesem Jahr neben Syrien und dem Irak. Das Geld reicht nicht. Die Vereinten Nationen haben ihre Nahrungsmittel-Hilfe eingeschränkt. Das ist dramatisch.
Wie wirkt sich diese Einschränkung aus?
Die UN verteilen Essensgutscheine an die Flüchtlinge. Das waren einmal 34 US-Dollar pro Monat pro Person. Jetzt sind es noch 17 US-Dollar, davon kann man nicht leben. Die Flüchtlinge haben ihr Erspartes mitgebracht, aber das ist mittlerweile aufgebraucht. Die Menschen ziehen von Wohnungen in Elendsviertel und dann weiter in Gebäude, die nicht einmal ein fertiges Dach haben.
Was bedeutet dies für den Libanon und seine Gesellschaft?
Wenn 1,2 Millionen Flüchtlinge in einem Land mit vier Millionen Einwohnern ankommen, dann ändert das alles. Wenn man über die Straßen läuft, dann sieht man heute andere Menschen als noch vor zwei Jahren. Kinder betteln dort. Alles hat sich geändert: die Altersstruktur, der öffentliche Dienst, die Gesundheit der Menschen. Medizinische Leistungen sind privatisiert im Libanon, und die Menschen können es sich einfach nicht leisten, sie zu nutzen.
Die Liste der Probleme ist lang. 300.000 von 400.000 Kinder gehen nicht zur Schule. Die meisten Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten und wenn ihnen nicht geholfen wird, dann sind einige gezwungen, sich zu prostituieren oder ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und arbeiten zu lassen. Sie werden missbraucht, weil ihre Rechte nicht respektiert werden. Das ist eine Abwärtsspirale und es nicht klar, wo sie enden wird.
Wie versucht das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Libanon die Situation zu verbessern?
Keine Hilfsorganisation kann das allein bewältigen. Wir konzentrieren uns auf Bereiche, in denen wir besondere Legitimität besitzen und Expertise haben, oder in denen wir Dinge mit weniger Geldeinsatz geregelt kriegen. Wir besuchen zum Beispiel alle Gefängnisse. Natürlich sind sie völlig überbelegt. Deshalb arbeiten wir mit den Behörden zusammen daran, diese Situation erträglicher zu machen. Wir ermutigen sie, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren. Viele Gefängnisse sind auch sehr alt, deshalb arbeiten wir daran, sie zu renovieren. Wir arbeiten auch in Kliniken am Belüftungs- und Abwassersystem und an der Trinkwasserversorgung.
Wir sind im Gesundheitsbereich tätig, versorgen verwundete Syrer und Libanesen medizinisch. Das beginnt mit der akuten Wundversorgung und geht bis hin zur wiederherstellenden Chirurgie, zur Physiotherapie. Wir helfen auch mit Prothesen und bieten psychologische Hilfe. Wir wollen dabei unseren libanesischen Kollegen Fachwissen vermitteln und hoffen, ein Fachzentrum aufzubauen.
Ist diese Arbeit schwierig angesichts ausbleibender Spendengelder?
Wir versuchen, uns auf Prioritäten zu konzentrieren. Da steht Gesundheit an erster Stelle, weil das der Bereich ist, in dem das IKRK tätig sein darf. Aufgrund unserer langjährigen Präsenz dürfen wir im Libanon mit eigenen Einrichtungen arbeiten. Diese Sonderstellung nutzen wir. Wir wollen die Situation im Land verbessern und bei der Gesundheitsversorgung gelingt uns das.
Wann, glauben Sie, wird sich ganz Grundsätzlich etwas ändern in der Region?
Als humanitäre Helfer können wir den Menschen nur etwas Luft verschaffen. Politiker müssen Lösungen vorschlagen. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass wir noch vier, fünf weitere Jahre in dieser Situation feststecken werden, selbst wenn heute ein Friedensabkommen geschlossen würde. Die Zerstörung ist so gewaltig, dass ein Wiederaufbau Jahre dauern wird.
Fabrizio Carboni leitet seit zwei Jahren die Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) im Libanon.
Das Gespräch führte Manuela Kasper-Claridge