Willkommenskultur im Stresstest
7. April 2017Flüchtlingen und Migranten ein neues Zuhause zu bieten, ihnen die Chance zur Integration zu geben und das alles in einem Land, das im Gegensatz zu einigen europäischen Nachbarn eine eher flüchtlingsfreundliche Politik betreibt - das fällt in Deutschland unter den Begriff Willkommenskultur.
Das Wort ist so in der deutschen Kultur verwurzelt, dass auch Publikationen wie die britische Tageszeitung "Guardian" und die angesehene englischsprachige Zeitschrift "Economist" es in seiner deutschen Form verwenden. Die Bertelsmann Stiftung hat jetzt im Rahmen einer repräsentativen Umfrage herausgefunden, dass es um die urdeutsche Willkommenskultur auch nach einigen Jahren mit rasant steigenden Flüchtlingszahlen noch gut bestellt ist. Die Forscher sagen in einem Statement aber auch, dass die Willkommenskultur den ersten "Stresstest" zwar bestanden hat, aber einige Kratzer davontragen musste.
"Ich finde es sehr beachtlich, wie robust die Willkommenskultur in Deutschland nach diesen zwei außergewöhnlichen Jahren der Rekordzuwanderung von Flüchtlingen dasteht," sagt Ulrich Kober, Migrationsexperte der Bertelsmann Stiftung, der DW: "Da hätten wir erwartet, dass mehr Stimmungsumschwung erkennbar ist."
Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung führte das Meinungsforschungsinstitut Kantar Emnid im Januar 2017 eine repräsentative Umfrage in ganz Deutschland durch. Telefonisch wurden 2014 Personen ab 14 Jahren über ihre Ansichten zur Willkommenskultur befragt.
Zunächst ging es nicht um die persönliche Meinung der Befragten, sondern darum, wie offen ihrer Ansicht nach die Bevölkerung und staatliche Stellen gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen sind. Der Hintergedanke für diese Art der Fragestellung: Experten hatten befürchtet, dass sich Teilnehmer selbst als toleranter bezeichnen würden, als sie tatsächlich sind, um nicht verurteilt zu werden - das Problem der sozialen Erwünschtheit.
Bei der Frage nach der Willkommenskultur unterschieden die Meinungsforscher zwischen Flüchtlingen und Einwanderern, die nach Deutschland kommen, um hier zu studieren oder zu arbeiten. Mehr als 70 Prozent der Befragten sagten, dass beide Gruppen von offiziellen Stellen in ihren Kommunen willkommen geheißen werden.
Die Lage in der Bevölkerung ist nach Meinung der Befragten aber längst nicht so eindeutig. Zwar gaben 70 Prozent an, dass hochqualifizierte Einwanderer von ihren Mitmenschen willkommen geheißen werden. Bei Flüchtlingen sahen das aber nur noch 59 Prozent der Befragten so. 34 Prozent gaben an, dass in der Bevölkerung von einer Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen keine Rede sein könne.
Die Einstellung gegenüber Flüchtlingen hat sich in den vergangenen zwei Jahren stark verändert. 2015 wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ebenfalls eine Umfrage zum Thema Flüchtlinge durchgeführt. Damals wurden Teilnehmer - ebenso wie im Januar 2017 - gefragt, ob Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte oder ob die Belastungsgrenze erreicht sei.
2015 sagten 51 Prozent der Befragten, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen könnte und sollte, weil es humanitär geboten sei. Nur 40 Prozent sahen die Belastungsgrenze als erreicht an. 2017 hat sich das Verhältnis umgekehrt: Nur noch 37 Prozent sagen, Deutschland sollte mehr Flüchtlinge aufnehmen. Mit 54 Prozent sind mehr als die Hälfte der Deutschen der Meinung, die Belastungsgrenze sei erreicht.
Deutschland hat in den vergangenen Jahren weit mehr Flüchtlinge aufgenommen als die meisten anderen europäischen Staaten. Deshalb fordern jetzt noch mehr Befragte als 2015, dass die Verteilung von Flüchtlingen nach festen Regeln stattfinden sollte.
"Die Aufnahmebereitschaft sinkt und dahinter steht vor allem der Wunsch, dass [die Verteilung] in Europa fairer gestaltet wird", sagt Kober: "Deutschland muss noch stärker sein Gewicht dafür einsetzen, dass Blockaden aufgelöst werden."
In der deutschen Willkommenskultur gibt es große Unterschiede zwischen den Altersgruppen. 2017 gaben 51 Prozent der Befragten zwischen 14 und 29 Jahren an, Deutschland könne und solle mehr Flüchtlinge aufnehmen. Unter den 30 bis 59-Jährigen waren nur 35 Prozent dieser Meinung - und weniger als jeder Dritte von den Deutschen, die 60 Jahre oder älter sind. In dieser Gruppe waren 2015 noch 53 Prozent der Meinung gewesen, Deutschland könnte und sollte mehr Flüchtlinge aufnehmen
Die genauen Gründe für die Unterschiede zwischen den Generationen sind nicht wissenschaftlich erforscht. Kober glaubt, es liege unter anderem an der Zusammensetzung der verschiedenen Altersgruppen.
"Es sind viel mehr Menschen mit Migrationshintergrund in dieser Gruppe [der 14 bis 29-Jährigen], für die der Umgang mit Vielfalt selbstverständlich ist", sagt Kober. "Viele sagen beispielsweise, Migration führt zu größeren Problemen in der Schule. Aber die jüngeren Befragten, die ja teilweise noch in der Schule sind, sagen das am seltensten. In der Generation 60 Plus gibt es kaum Menschen mit Migrationshintergrund. Da ist Vielfalt eher ein Thema, das Ängste hervorruft."