Drehscheibe Agadez
6. September 2015Mamane Kanta hat alle Hände voll zu tun. Der Leiter des Radio-Senders "Alternative FM" in der nigrischen Stadt Agadez bereitet gerade seine nächste Sendung vor. Wie so oft geht es um das Thema Migration. Die Stadt, die an einer der berühmten Karawanenrouten durch die Sahara liegt, ist eine wichtige Etappe auf der Reise nach Nordafrika oder weiter nach Europa. Längst nicht alle Migranten wollen das Mittelmeer überqueren, sondern dort bleiben, wo es Arbeit gibt.
Der Journalist Kanta warnt vor den Gefahren: die unsichere Reise durch die Wüste, die viel zu voll beladenen Boote im Mittelmeer und die schlechten Aussichten, im Zielland überhaupt eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Trotzdem kämen jede Woche mehr als tausend junge Menschen in Agadez an, die ihr Glück versuchen wollten, erzählt Kanta: "Die jungen Leute sagen, dass bei ihnen die Lage zu schlecht sei. Sie könnten nicht wie normale Bürger leben", hört Kanta immer wieder zur Begründung. "Es gibt auch Menschen, die studieren wollen oder eine Karriere als Sportler anstreben. Das ist bei ihnen zu Hause nicht möglich."
Zwangsprostitution boomt in Agadez
Für viele bedeutet Agadez erst einmal Zwangspause auf unbestimmte Zeit. Kaum jemand kann die ganze Reise auf einmal finanzieren. Hier warten die Migranten deshalb darauf, dass die Familien ihnen Geld schicken oder sie versuchen, als Tagelöhner ein wenig zu verdienen. Die 23-jährige Victoria, die aus dem Südosten Nigerias stammt, ist schon seit mehr als einem Jahr in der Stadt. Sie hat das erlebt, was vielen Frauen auf der Reise nach Europa passiert: Victoria wurde von einem Schlepper hergebracht, den sie in ihrer Heimat kennengelernt hatte. Er versprach ihr eine Ausbildung und Zukunft in Italien. Doch in Agadez ist der Traum ist zum Albtraum geworden: "Hier bin ich verkauft worden und musste Geld verdienen, um mir meine Freiheit zurück zu kaufen."
Konkret bedeutet das: Die junge Frau wurde zur Prostitution gezwungen und sollte das auch in Europa tun. Was im vergangenen Jahr genau geschah, darüber will sie nicht sprechen. Derzeit lebt sie bei einem Mann aus Agadez, der sie als seine Frau vorstellt. Die beiden teilen sich ein Zimmer. Seitdem der Niger im Mai - auch auf Druck der Europäischen Union - ein Gesetz gegen Menschenhandel verabschiedet hat, verstecken sich die Migranten so gut geht es und versuchen, nicht aufzufallen. Die Tage verbringt Victoria meist damit, auf einer fleckigen Matratze zu sitzen und DVDs mit Gottesdiensten ihrer Lieblingsprediger aus Nigeria zu schauen.
Zukunft hat das nicht: "Als Fremde ist es hier schwierig", sagt Victoria. Zurück in die Heimat will sie trotzdem nicht, sondern lieber weiter nach Europa. "Wenn ich genügend Geld bekomme", sagt sie. Deutschland oder Kanada hält sie für gute Ziele. Warum, das kann sie nicht genau sagen. Auf jeden Fall will sie arbeiten, um ihrer Familie Geld schicken zu können. "Ich habe ja Talente und kann singen. Und einen Schulabschluss habe ich auch."
Narben aus der Zeit in Libyen
Khalid, ein junger Mann aus dem Senegal, hatte sich im vergangenen Jahr auf den Weg nach Italien gemacht. Alleine für die Reise bis nach Libyen hatte er 800.000 CFA, rund 1200 Euro, gezahlt. Das Geld wird für Bustickets, Pickup-Fahrten, Bestechungen, Unterkünfte und die Bezahlung der Menschenhändler benötigt. Ein günstiges Flugticket von Senegals Hauptstadt Dakar bis nach Paris gibt es ganz legal ab 300 Euro, ist wegen der Visa-Bestimmungen für die Migranten aber in der Regel keine Option.
Viereinhalb Monate lang war Khalid in Libyen, weil er das Geld für die Weiterreise noch nicht beisammen hatte. Dann hätten ihn Schlepper aufgegriffen und eingesperrt, erzählt er. Das Geld für die Weiterreise sollte er abarbeiten. Khalid wurde so stark misshandelt, dass er nur noch einen Weg sah: zurück in den Senegal. Heute sitzt Khalid im Auffanglager der Internationalen Organisation für Migration (IOM) am Stadtrand von Agadez. Sie bietet Rückkehrern für ein paar Tage eine Unterkunft, Essen, Duschen und Kleidung und hilft bei der Organisation der Heimkehr. Khalid ist froh darüber: "Ich will nach Hause und bin müde", sagt er leise.
Dass junge Menschen erst eine solche Erfahrung machen müssen, um in ihrer Heimat zu bleiben, bedauert Journalist Kanta. Er will deshalb die Politik in die Pflicht nehmen. Eine der dringendsten Aufgaben sei es, in den Heimatländern etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit zu unternehmen. Die Politiker dürften nicht nur Wahlkampfgetöse machen, fordert er. Stattdessen müssten sie umgehend handeln. Denn sonst ließe sich die Migration nicht stoppen.