"Ich weiß nicht, was aus meiner Familie wird"
20. August 2021Jalal hat Angst um seine Familie. "Sie sind jetzt in Kabul in einem Versteck, aber die Taliban durchsuchen jedes Haus", sagt er der DW. Zum Schutz seiner Familie nennt er sich Jalal (sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt). "Sie klopfen an die Türen und suchen nach Menschen, die mit der afghanischen Regierung oder dem Militär zusammengearbeitet haben, und schauen, ob Leute Waffen oder Munition haben. Ich weiß nicht, was mit meiner Familie geschehen wird."
Seine Frau, die Mitglied einer Frauenrechtsorganisation in Afghanistan war, sei ebenfalls untergetaucht und voller Angst, der Flughafen von Kabul von den Taliban abgeriegelt, alle Grenzübergänge ins Ausland geschlossen. "Die Situation ist sehr beängstigend. Es ist schrecklich", sagt er.
Von den Taliban bedroht
Der 26-jährige konnte dank eines Studentenvisums nach Deutschland einreisen. Nur einen Tag, bevor Kabul in die Hände der radikalislamischen Taliban fiel. Dabei musste er jedoch seine Familie zurückzulassen.
"Meine ideologische Ausrichtung war immer gegen die Taliban und ihr Regime", sagt er. "Ich stamme aus einer politischen Familie und bin ein nach westlichen Werten erzogener Mensch mit politischen und gesellschaftlichen Ideen, die für sie niemals akzeptabel wären. Meine Familie und ich wurden deshalb schon oft von den Taliban bedroht."
Kein Vertrauen in Taliban-Versprechungen
"Wir haben diese Situation so nicht kommen sehen", sagt Jalal. "Unser Präsident redete von einem laufenden Friedensprozess und von einer Übergangsregierung, die die Macht an die Taliban weitergeben sollte. Aber alles hat sich sehr schnell verändert." In einem Fernsehinterview versprach ein Taliban-Vertreter am Dienstag eine Generalamnestie für afghanische Regierungsmitarbeiter. Zudem gibt es Ankündigungen der Miliz, keine Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen.
Doch Jalal vertraut diesen Versprechungen nicht. "Das sind Lügner. Sie sagen das jetzt, um die Menschen zu beruhigen." Er habe gehört, dass die Taliban in den von ihnen besetzten Provinzen bereits Menschen getötet hätten. "Ich bin mir einhundertprozentig sicher, dass sie Listen von Menschen haben, die mit der Regierung zusammengearbeitet haben, von Menschen, die schlecht über die Taliban geredet haben. Und an ihnen werden sie sich rächen."
"Sie haben Afghanistan verraten"
Jalal ist der Ansicht, dass der überstürzte Abzug der NATO aus dem Land völlig verkorkst abgelaufen sei. "Nehmen Sie etwa den Luftwaffenstützpunkt Bagram", sagt er. "Sie sind nachts abgezogen, ohne jemanden zu informieren. Sie haben Afghanistan verraten."
Verblüfft zeigt sich Jalal von der Reaktion des afghanischen Militärs. "Ich kann nicht wirklich verarbeiten, was mit Afghanistan passiert ist", sagt er. "Warum sind sie abgehauen? Warum wurde nicht eine einzige Kugel abgefeuert, als Kabul fiel? Ich weiß nicht, warum das alles ohne Kampf zwischen unseren Soldaten und den Taliban passiert ist."
Ortskräfte sitzen fest
Die deutsche Bundesregierung musste am Montag auf einer Pressekonferenz einräumen, dass Tausende von afghanischen Ortskräften, die für die deutsche Regierung und das Militär gearbeitet oder ihnen geholfen haben, immer noch in Kabul festsitzen. Und das, obwohl ihnen zugesichert wurde, dass sie in Deutschland Asyl erhalten würden.
Bei denjenigen, die es bereits nach Deutschland geschafft haben, hatten die langen Verzögerungen bei der Erteilung von Visa teilweise zu bürokratischer Verwirrung geführt. Medienberichten zufolge sollte einigen Helfern zwar gesagt werden, wohin genau in Deutschland sie reisen sollten. Da die afghanischen Ortskräfte oft ihre Reise selbst organisieren mussten, kamen einige dann aber doch an den Flughäfen in Deutschland an, ohne, dass sie wussten, wohin sie gehen sollten. In einigen Fällen war es den Verwandten in Deutschland überlassen, in den Flüchtlingsheimen anzurufen, um eine Unterkunft für die Neuankömmlinge zu organisieren.
Wie es nun für Jalal weitergeht? Sein Visum läuft zwar am 31. August aus, aber es ist unwahrscheinlich, dass er jetzt zurückfliegt. Was bleibt, ist die Angst um seine Familie in Afghanistan.