Flucht über den Lastenaufzug
12. August 2011
Immer wieder rasen die Fahrräder an Jürgen Kissner vorbei. Ein kleiner Luftzug kommt jedes Mal von den Rädern zu ihm herüber, wenn sie ihre Kreise auf der Radrennbahn in Köln-Müngersdorf drehen. Heute kann Kissner mal ganz entspannt den Athleten auf der Bahn zuschauen, eigene Schützlinge hat er diesmal nicht am Start. Kissner ist noch immer gut in Schuss, trotz 67 Jahren ist seine Figur kräftig und sportlich, nur die Haare sind mit der Zeit etwas weniger und grauer geworden. Die jungen Radsportler begegnen ihm mit Respekt, die Begrüßungen sind freundlich. Doch die wenigsten jungen Radsportler, die sich im Radstadion tummeln, werden den Lebenslauf von Jürgen Kissner in Gänze kennen, der sein einschneidendes Erlebnis 1964 in Köln hatte.
DDR-Zwangsmaßnahme: Mandeln entnommenKissner, je dreimal Meister mit der DDR steht 1964 mitten in den gesamtdeutschen Olympiaausscheidungen der DDR gegen die BRD. Zwischen den beiden Mannschaften steht es unentschieden, nur eine Mannschaft kann nach Tokio zu Olympia reisen. Kissner, der aus Brandenburg stammt, war kurz vorher das gewünschte Sportstudium verwehrt worden, weil sein Vater zum reaktionären Bürgertum gehörte. Dazu wurden allen DDR-Sportlern die Mandeln entnommen. Man fürchtete Entzündungen und damit einen Ausfall der Sportler bei Olympia. "Das empfand ich als enormen Eingriff in meine persönliche Freiheit", erklärt Kissner heute rückblickend. Der Entschluss zu fliehen, wächst. Bei den Ausscheidungen in Köln besucht ihn ein alter Schulfreund. Sie sprechen über sein Vorhaben. Der Freund willigt ein ihm zu helfen.
Die Flucht über den Lastenaufzug
Nach dem Training auf der Kölner Radrennbahn fahren die vier DDR-Radsportler, unter ihnen ihr fluchtbereiter Mannschaftskamerad, mit den Rädern den Lastenaufzug im Hotel am Kölner Dom nach oben zu ihren Zimmern. Kissner lässt seinen Zimmernachbar zuerst duschen und schickt ihn dann schon einmal alleine nach unten vor zum Essen. So gewinnt er Zeit. Alleine auf dem Zimmer packt er seine Privatsachen und fährt mit dem Lastenaufzug wieder nach unten. Im Fahrstuhl fragt ihn der Hotelmitarbeiter, der den Aufzug bedient: "Sind sie nicht schon gerade mit den Rädern nach oben gefahren?" Kurz fährt Kissner der Schreck in die Glieder "Fängt ja toll an deine Flucht", denkt er er sich. Doch es geht gut. Unten nimmt in sein alter Schulkamerad in Empfang und die beiden verschwinden mit dem Auto.
Beim Spaziergang trifft er die DDR-Mannschaft
Am nächsten Morgen schlendert Kissner mit seinem alten Mitschüler zum Rathaus, um seinen neuen Wohnsitz in Köln anzumelden. Doch prompt läuft er seiner DDR-Mannschaft in die Arme, die sich gerade auf ihrem Spaziergang nach dem morgendlichen Frühstück befindet. Sofort kommen die Trainer zu ihm rüber und versuchen ihn zu überreden, seinen Fluchtversuch abzubrechen: "Junge, mach keinen Quatsch. Komm zurück", entgegnen sie ihm. Doch Kissner lässt sich nicht mehr überreden. Sein Entschluss steht fest: Sein Leben will er in Westdeutschland fortsetzen.
Die Stasi lässt die Mutter einfliegen
Doch die DDR gibt den Kampf um ihren Leistungsträger und die Olympiahoffnung nicht auf. In Weißwasser, dem Heimatort von Kissner, fängt die Staatssicherheit seine Eltern ab. "Die haben meine Eltern sofort getrennt, und meinem Vater wurde mitgeteilt: Mit ihrem Sohn ist etwas Fürchterliches passiert. Ja, was denn, ist er tot? Nein, es ist schlimmer, er ist abgehauen", erzählt Kissner heute mit einem Lächeln auf dem Lippen. Seine Mutter bringt die Stasi nach Köln, sie soll ihren Sohn zur Rückkehr in die DDR überreden.
Treffen mit der Mutter unter vier AugenKissners Schulfreund gelingt es, dessen Mutter alleine in ein Taxi zu setzen. In einem separaten Wagen folgen die Stasi-Offiziere hinten dran. In abenteuerlicher Manier hängt der Taxifahrer die Stasi-Männer ab. Kissners Mutter kann so ihren Sohn alleine in einer Kölner Gaststätte treffen und unbehelligt mit ihm reden. Sie rät ihrem Sohn seinen Plan durchzuziehen und nicht zurückzukommen. Doch damit ist es nicht geschehen. Kissners Mutter drohen durch das alleinige Treffen Schwierigkeiten. Der Sohn muss seine Mutter schützen, sonst drohen ihr als möglicher Mitwisser und Fluchthelfer Repressalien. "Wir kamen zu der Idee, zu behaupten, meine Mutter hätte mich nicht wiedererkannt. Ich hätte unter Drogen gestanden und hätte völlig apathisch gewirkt", berichtet der 68-Jährige. Der Trick funktioniert. Die DDR stellt den Fall später als Menschenraub der Bundesrepublik dar.
Trotz der geglückten Flucht des Sohnes bleibt das Leben für Kissners Familie nicht ohne Folge. Sein Bruder muss zur Nationalen Volksarmee, um die Treue zur Republik zu beweisen, obwohl er sein Medizinstudium fast beendet hat. Sein Vater verliert seine lukrative Position als Kreisarzt, mit den Privilegien eines eigenen Chaffeurs mit Wagen.
Missgeschick kostet Gold bei Olympia
Nach der geglückten Flucht fängt Kissner sein neues Leben im Wersten an. Er bleibt nur ein halbes Jahr gesperrt, obwohl die DDR vier Jahre beantragt hatte. Er kann sein angestrebtes Sportstudium an der Deutschen Sporthochschule Köln beginnen. Und auch seine Sportlerkarriere nimmt nach Ablauf der zwangsbedingten Pause wieder Fahrt auf. Mit der Vierer-Mannschaft der BRD wird er 1966 Vize-Weltmeister und fährt als Goldfavorit zu Olympia 1968 nach Mexiko. Im Finale gegen Dänemark drückt er seinen Teamkollegen jedoch auf der Bahn weg, er hat Angst vor einer Kollision. Ausgerechnet die DDR-Funktionäre weisen die Schiedsrichter und die geschlagenen Dänen auf den Regelverstoß hin. Deutschland wird disqualifiziert und erhält nachträglich Silber. Im Anschluss erhält der Pechvogel Post von enttäuschten Fans, die ihn als "sportlichen Saboteur der DDR" bezeichnen.
Jürgen Kissner hat trotzdem seinen Frieden mit sich geschlossen. Ob er heute wieder so handeln würde, wenn er noch einmal vor der Wahl stehen würde zu fliehen oder zu bleiben? "Mein Leben ist zufriedenstellend gelaufen, ich bin glücklich und würde es wieder tun."