Türkei liefert, Griechenland im Verzug
3. August 2016Die Türkei droht damit, das Flüchtlingsabkommen mit der EU nicht mehr einzuhalten, sollte bis Oktober der visafreie Reiseverkehr für Türken in die EU nicht kommen. In Brüssel stellt man sich die Frage: Brauchen wir das Flüchtlingsabkommen wirklich und funktioniert es überhaupt?
Die Antwort auf diese Frage fällt nicht eindeutig aus. Die Zahl der Asylbewerber und Migranten, die aus der Türkei nach Griechenland übersetzen, ist seit dem 20. März tatsächlich drastisch gesunken. Das liegt nach Einschätzung von Experten aber daran, dass die EU-Asylpolitik mit der Schließung der Balkanroute auf Abschottung setzt und deshalb eine abschreckende Wirkung auf Migranten entfaltet. Allein die Aussicht, von den griechischen Inseln wieder in die Türkei zurückgebracht zu werden, hat viele Flüchtlinge offenbar entmutigt, die teure und gefährliche Überfahrt zu wagen.
Die Zahl der tatsächlichen Abschiebungen von den "Hotspots", den Registrierzentren auf den griechischen Ägäisinseln, in die Türkei ist weitaus geringer, als sich das die Architekten des Flüchtlingspaktes im März ausgemalt hatten. Von April bis Ende Juli sind genau 468 Menschen aus Griechenland in die Türkei zurück geschickt worden. Beim EU-Türkei-Gipfel hatten die EU-Beamten, die den Deal vorbereiteten, noch mit Tausenden von Abschiebungen gerechnet. Der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, sprach damals von einer "Herkulesaufgabe" für die EU und der größten logistischen Operation, die die EU-Kommission innerhalb einer kurzen Frist organisieren müsse.
Übertriebene Planungen?
Bis zu 4000 Beamte sollten die EU-Mitgliedsstaaten zur Unterstützung der überforderten griechischen Verwaltung nach Griechenland schicken. Die beiden zuständigen EU-Behörden, die Grenzschutzagentur Frontex und die Asylagentur EASO, forderten dementsprechend Personal bei den Mitgliedsstaaten an. Bis heute wurden in Griechenland tatsächlich nur 61 Übersetzer, 92 Asylexperten, zwei Experten für Abschiebungen und 66 Grenzschutzbeamte für Abschiebungen eingesetzt, insgesamt also 221 Beamte. Diese relativ geringe Anzahl sei ausreichend, um die Aufgaben auf den griechischen Inseln zu erfüllen, sagte dazu eine Sprecherin der EU-Kommission. Die ersten Anforderungen seien viel zu hoch gewesen.
Die Verfahren in Griechenland, die zur Rückführung von syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen und illegal eingereisten Migranten in die Türkei führen sollen, dauern wesentlich länger als erwartet. Beim Abschluss des Flüchtlingsabkommens waren die EU-Beamten von wenigen Tagen oder Wochen ausgegangen. Tatsächlich ist jetzt, vier Monate später, gerade einmal die vorläufige Registrierung der Asylbewerber abgeschlossen worden, wie die Asylagentur EASO am Montag mitteilte. Jetzt werden die Asylbewerber zur eigentlichen Registrierung vorgeladen und anschließend zu Interviews gebeten. Danach entscheidet dann die Asylbehörde über Annahme oder Ablehnung. Dann können abgelehnte Bewerber noch eine Berufungsinstanz einschalten. Die nächsten Verfahrensschritte werden, so kündigen es EASO und die griechischen Behörden schon einmal vorsorglich an, "sicher noch einige Monate dauern."
Warten auf Griechenland
Seit dem 20. März werden Flüchtlinge und Migranten nicht mehr von den Inseln auf das griechische Festland gebracht. Deshalb stauen sich mittlerweile 9399 Personen in den "Hotspots". Deren Kapazitäten sind lange überschritten. Die beiden Lager Moria und Kara Tepe aus der Insel Lesbos haben beispielsweise 3500 Plätze, sind aber derzeit mit 3800 Menschen belegt, berichtet die griechische Zeitung Kathimerini. Die griechischen Behörden teilten am Montag mit, dass in ganz Griechenland derzeit 57.115 Asylbewerber vorläufig registriert seien. In den ersten Monaten des Jahres haben die griechischen Asylbehörden erst 588 Verfahren abgeschlossen. "Das eigentliche Problem ist nicht, dass die EU nicht genügend Hilfe anbietet, sondern dass die Verfahren so lange dauern. Das Nadelöhr ist die griechische Asylbehörde", sagt dazu ein EU-Diplomat, der nicht genannt werden will.
Auch am Geld kann es eigentlich nicht liegen. Gerade in der letzten Woche sind weitere Millionen für den Ausbau des griechischen Asylsystems von der EU-Kommission freigegeben worden. Die Regierung sucht immer noch 2500 neue Mitarbeiter für diesen Bereich. Sollte die Türkei die Rücknahme von abgelehnten Asylbewerbern demnächst verweigern, hätte das zunächst wenig konkrete Auswirkungen vor Ort. Nur die psychologische Wirkung auf Flüchtlinge und Migranten, die derzeit in der Türkei abwarten, wäre aus der Sicht der EU bedenklich. Sie könnten sich ermuntert fühlen, doch nach Griechenland aufzubrechen, auch wenn sie von da aus nicht weiter nach Westeuropa kämen.
Schleppende Umsiedlung innerhalb der EU
Die direkte Umverteilung von "offensichtlich Schutzbedürftigen" aus Griechenland in andere EU-Staaten, wie sie die Gipfelbeschlüsse vom März vorsehen, findet nur in geringem Umfang statt. 2681 Personen sind seit Sommer letzten Jahres umgesiedelt worden. Zugesagt war die Umsiedlung von fast 12.000. Auch hier geht es nur schleppend voran, weil die aufnehmenden Staaten zögern und weil die Auswahl der Personen, die für Umsiedlung in Frage kommen, äußerst langwierig ist. Das berichten EU-Beamte, die mit den Verfahren vertraut sind.
Der Bürgermeister der Inselhauptstadt auf Kos hat in einem Brief an die griechische Regierung vor den Folgen einer weiteren Flüchtlingswelle gewarnt. "Das wäre ein Desaster für unsere Versuche, die Verluste für die Tourismusindustrie zu begrenzen", schrieb Bürgermeister Giorgos Kyritsis an den griechischen Premierminister Alexis Tsipras. Der griechische Flüchtlingsminister Yiannis Mouzalas hat in der Boulevardzeitung "Bild" schon vorsorglich einen Plan gefordert, sollte die Türkei den Flüchtlingsdeal platzen lassen. "Wir brauchen keinen Plan B", antwortete darauf die Sprecherin der EU-Kommission, Mina Andreeva. "Wir haben einen Plan A, der abgearbeitet wird."
Gesundheitsbehörde: Griechische Lager schließen
Abschreckend auf Flüchtlinge könnten auch die Zustände in den Übergangslagern in Griechenland wirken. Sie entsprechen nicht internationalen Standards. Das beklagen nicht nur die einschlägigen Nicht-Regierungs-Organisationen, sondern auch die griechische Regierung selbst. Das griechische Zentrum für Seuchenkontrolle (KEELPNO) hatte 16 Auffanglager Anfang Juli inspiziert. Die Gesundheitsbehörde empfahl daraufhin, alle Lager zu schließen. Sie stellten wegen mangelnder Hygiene und Wasserversorgung ein Gesundheitsrisiko für die Flüchtlinge und die Anwohner der Lager dar, heißt es in dem Bericht der KEELPNO. "Wir glauben, dass die Lager eine Sackgasse sind und aus Gründen der öffentlichen Gesundheit geschlossen werden sollten", sagte der Vizepräsident der KEELPNO, Andreas Benos, der griechischen Zeitung Kathimerini.
Die Situation in Griechenland würde sich wahrscheinlich zuspitzen, wenn die Türkei aus dem abschreckenden Flüchtingsdeal ausstiege. Oder würden die Zustände in Griechenland und die geschlossene Balkanroute abschreckend genug sein, um Migranten in der Türkei zu halten? Das fragen sich nicht nur die EU-Beamten in Brüssel. Eine klare Antwort gibt es nicht.