Finnland will klimaneutrale EU 2050
5. Juli 2019Mineralwasser in Plastikflaschen ist während der finnischen Ratspräsidentschaft bis Ende Dezember in der "Finlandia Hall" tabu. Das Wasser kommt im Tagungszentrum in Helsinki ganz einfach aus dem Wasserhahn. Essen ist nicht in Plastik verpackt. Die "Finlandia Hall" kann man von den Hotels der finnischen Hauptstadt, dem Bahnhof und dem Busbahnhof zu Fuß, per Fahrrad oder Straßenbahn erreichen. Vorfahrten mit dem Auto sind verpönt. Die Organisatoren des sechs Monate währenden EU-Vorsitzes haben sich vorgenommen, einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen.
Mit dem Geld, das normalerweise für Gastgeschenke, Kugelschreiber oder kostenlose Konferenzmaterialien ausgegeben würde, wollen die Finnen Kompensationen für Kohlendioxid-Verschmutzung zahlen. Denn die Teilnehmer der EU-Tagungen in Finnland werden hauptsächlich mit dem Flugzeug in das weit im Norden liegende Land reisen müssen und dementsprechend Immissionen verursachen. Aus finnischer Sicht unnötige Tagungen wurden deshalb gecancelt.
Einen enorm aufwendigen EU-Gipfel in Finnland, zu dem alle 28 Staats- und Regierungschefs mit einer Flotte von Flugzeugen angereist wären, hat die neue Regierungsmannschaft einfach gestrichen. Auch soll es keinen "Beamten-Tourismus" nach Helsinki geben, heißt es von der finnischen EU-Botschaft in Brüssel. Fachtagungen der EU-Beamten könnten genauso gut in Brüssel stattfinden.
Finnen setzen auf Klimaschutz
Die schlanke, möglichst nachhaltige EU-Präsidentschaft hat sich die neue rot-grüne Koalitionsregierung in Finnland ausgedacht. Viel Zeit zur Vorbereitung blieb dem neuen Ministerpräsidenten Antti Rinne nicht. Erst vor vier Wochen konnte der Sozialdemokrat die Koalitionsverhandlungen abschließen.
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl im April wurden die Sozialdemokraten zum ersten Mal seit 16 Jahren wieder stärkste Kraft, ganz knapp vor den Rechtspopulisten. Als wichtigstes Ziel gab Rinne für die finnische Führung in der EU Fortschritte beim Kampf gegen die Erderwärmung aus. "Zeit für Lösungen ist jetzt", meinte der Premier in einen Blog zum Start der Ratspräsidentschaft.
"Es ist ganz wichtig, dass die EU bei diesem Thema mit einer Stimme spricht", sagte der finnische Regierungschef an diesem Freitag in Helsinki. Die EU-Kommission aus Brüssel ist zum traditionellen ersten Arbeitsbesuch angereist, selbstverständlich dann doch mit dem Flugzeug. Geht es nach den Finnen, sollte die Europäische Union bald vereinbaren, bis 2050 "Immissions-neutral" zu wirtschaften, also kein klimaschädliches Kohlendioxid mehr freizusetzen.
24 EU-Staaten haben diesem Ziel bereits zugestimmt. Die Finnen wollen die letzten vier - die Visegradstaaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei - noch umstimmen. Die Osteuropäer fordern einen finanziellen Ausgleich für Länder, die von der Energiewende besonders betroffen sind. Darüber soll in den nächsten Monaten verhandelt werden.
Vernünftig und ruhig
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lobte beim Besuch seiner Kommissare in Helsinki, die ruhige und besonnene Art der Finnen. "Finnland hat sich immer für den europäischen Weg entschieden. Gerade jetzt braucht Europa Führung und Stabilität. Und dafür stehen sie", sagte Juncker an den finnischen Regierungschef Rinne gewandt.
Finnland selbst will beim Klimaschutz mit gutem Beispiel vorangehen. Bereits 2035, so sieht es das neue rot-grüne Regierungsprogramm vor, soll zwischen Helsinki und Lappland kein CO2 mehr ausgestoßen werden. 2050 will das Land dann sogar eine "negative Immission" vorweisen, also mehr Kohlendixoid abbauen als es an die Atmosphäre abgibt.
Die Finnen sind alarmiert, denn dieser Sommer ist der heißeste der Geschichte und auch letztes Jahr war es wochenlang außergewöhnlich warm. Der finnische Meteorologe Mika Rantanen von der Universität Helsinki twitterte vor einer Woche als am nördlichen Polarkreis über 30 Grad Celsius gemessen wurde:. "Es gibt keine Vorkommnisse in der finnischen Klima-Geschichte, die zeigen, dass es jemals heißer war im Frühsommer als heute."
Geld gegen Rechtsstaatlichkeit
Der finnische EU-Vorsitzende Rinne hat nicht nur beim Klimaschutz, sondern vor allem beim Thema "Rechtsstaatlichkeit" noch ein Hühnchen mit den Visegrad-Staatenzu rupfen - besonders mit Polen und Ungarn. Gegen diese beiden Staaten laufen Verfahren der EU zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit. Beim nächsten langfristigen gemeinsamen Haushalt von 2021 bis 2027 soll die Auszahlung von Zuschüssen an eine rechtsstaatliche Ordnung im Empfängerland geknüpft werden. Wie genau das aussehen soll, ist umstritten.
Polen und Ungarn, die zu den größten Empfängerländern zählen, wehren sich noch mit Händen und Füßen gegen die Verknüpfung. Die EU-Kommission empfiehlt in ihrem Haushaltsentwurf in den sieben Jahren des "Mittelfristigen Finanzrahmens" 1,13 Billionen Euro auszugeben. Das ist den Finnen, die zu den Nettozahlern gehören, zu viel.
Zusagen für den Balkan
Antti Rinne will Druck machen, bei neuen Zusagen für die westlichen Balkanstaaten. Nord-Mazedonien und Albanien soll während der finnischen Präsidentschaft ein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt werden. Hier stand Deutschland zuletzt deutlich auf der Bremse, obwohl die EU-Kommission beiden Ländern die "Verhandlungsreife" bescheinigt hat. "Finnland war immer ein Freund der Erweiterungen", sagte Ministerpräsident Rinne in Helsinki. Das neutrale Land ist erst 1995 der EU beigetreten, nachdem der große Nachbar Sowjetunion zerfallen war und Europa politisch neu geordnet wurde.
Ein Handikap hat die ambitionierte Ratspräsidentschaft der neuen finnischen Regierung: In vier Monaten tritt eine neue EU-Kommission ihr Amt an - möglicherweise unter der Deutschen Ursula von der Leyen. Das bedeutet nicht mehr viel Elan bei der scheidenden Kommission und Einarbeitungszeit für die neue Kommissionspräsidentin. Ob sich währenddessen auf den europäischen Baustellen viel bewegen lässt, ist zweifelhaft, meinten finnische EU-Diplomaten. Den Streit um den Haushalt wird man wahrscheinlich erst unter deutscher EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 lösen können.
Und dann war da noch der Brexit
Der Ausstieg Großbritanniens wurde bereits zweimal verschoben und ist jetzt spätestens am 31. Oktober um Mitternacht vorgesehen. Die finnische Ratspräsidentschaft hätte also alle Hände voll zu tun, um den Brexit zu managen, besonders wenn es zu einem "harten" Brexit ohne Austrittsabkommen kommen sollte. "Eigentlich hatten wir ja gedacht, die Briten sind während unseres Vorsitzes längst draußen, aber jetzt sitzen sie immer noch am Tisch", sagte ein finnischer EU-Diplomat mit leichtem Augenrollen. Großbritannien hatte 2017 nach dem positiven Brexit-Referendum auf seine turnusmäßige Ratspräsidentschaft verzichtet.