Die '68er und das Kino
14. April 2018Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg auf dem Champs-Élysées, die Bilder in rauem Schwarz-Weiß, die Kamera wackelt manchmal und bietet überraschende Perspektiven, die Montage ist, gelinde gesagt, unkonventionell: Jean-Luc Godards Film "Außer Atem" ist ein Meilenstein der Kinogeschichte.
Oder: Jean-Pierre Léaud als Antoine Doinel in den Filmen von Regisseur François Truffaut, zunächst als Kind und Heranwachsender, später als junger Mann, von "Sie küssten und sie schlugen ihn" bis zu "Liebe auf der Flucht". Und natürlich Truffauts Film "Jules und Jim": Jeanne Moreau zwischen zwei Männern, eine Liebe zu Dritt.
Die "Nouvelle Vague" im Vorfeld der 68er Bewegung
Die Regisseure der "Nouvelle Vague", jener filmischen Neuerungsbewegung, erschütterten Ende der 1950er Jahre das französische Kino. Neben Godard und Truffaut waren das die Filme von Jacques Rivette und Eric Rohmer, von Claude Chabrol, Alain Resnais und Louis Malle. Und natürlich die von Agnès Varda, der einzigen Regisseurin der "Nouvelle Vague".
Was hat all das mit dem Umbruchjahr 1968 zu tun, mit dem Jahr, an das in diesen Wochen und Monaten so viel und überall erinnert wird? Schließlich läutete die "Nouvelle Vague" die Revolution auf der Leinwand bereits ein knappes Jahrzehnt früher ein. Es ist aber kein Geheimnis, dass der gesellschaftliche Umbruch nicht erst mit dem 1. Januar 1968 begann. Dass er sich nicht nur auf den Straßen und Amtsstuben, den Hörsälen und in den Pressehäusern abspielte. Kunst und Musik, Literatur und Film - die Kultur hat die 68er-Bewegung eingeläutet.
Das Kino erzählte Geschichten von einer neuen Sexualität
Vor allem beim Kino wird dieser lange Vorlauf zum Jahr 1968 deutlich. Der Film hat bereits viele Jahre vor '68 vorweggenommen, was dann später von Historikern und Soziologen aufgeschrieben wurde. Gesellschaftlicher Umbruch und Studentenrevolution, Abschied von der Vätergeneration und den Idealen der Vergangenheit, ein neues Verhältnis zur Sexualität, ein gänzlich anderes Frauenbild und vieles mehr.
Kunst und Kultur haben das ästhetisch vorbereitet, lange vor '68. All das, was man heute mit dem gesellschaftlichen Umbruch jener Jahre verbindet, wurde - zumindest im Kino - schon in den letzten Jahren des vorangegangenen Jahrzehnts angelegt. Die Franzosen waren dabei besonders innovativ, die "Nouvelle Vague" wurde zur Speerspitze der formalen und inhaltlichen Neuorientierung. Sie beeinflusste Regisseurinnen und Regisseure weltweit.
Auch das "Oberhausener Manifest" atmete bereits den Geist von 1968
Andere große Kinonationen brauchten ein wenig länger, um die Wurzeln ihrer künstlerischen Ahnen zu kappen. In Deutschland wurde zwar schon 1962 das "Oberhausener Manifest" verabschiedet, doch der eigentliche Umbruch setzte erst ein paar Jahre später ein, als Regisseure wie Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder, Edgar Reitz und Werner Herzog tatsächlich ihre ersten Spielfilme realisieren konnten.
In Großbritannien entstand das "Free Cinema", das besonders sozialkritisch orientiert war. Regisseure wie Mike Leigh und Ken Loach drehten ihre ersten Filme. Filmtitel wie "Look Back in Anger" (von Regisseur Tony Richardson nach dem Stück "Blick zurück im Zorn") deuteten an, um was es ging: um den ungeschminkten Blick auf die Jahre, die zurücklagen und von denen sich die jungen Filmemacher absetzen wollten. Auch Richardson hatte seinen Film schon ein Jahrzehnt vor 1968 in Szene gesetzt. Etwas diplomatischer betitelte der Deutsche Alexander Kluge seinen Film: Er nannte ihn "Abschied von Gestern".
In Italien drückte sich der Umsturzwillen in Italo-Western aus
In Italien wählten die Regisseure einen ganz anderen Weg, verhüllten ihre Träume von Revolution und Umsturz im Mantel des Italowesterns. Die Revolution als Western-Oper mit viel Blei und Staub gewürzt: Sergio Leones "Spiel mir das Lied vom Tod" kam 1968 in die Kinos.
Auffallend auch die Aufbruchsstimmung in den Ländern Ost-Europas. In Ungarn waren die Menschen 1956 auf die Straße gegangenen, in der DDR bereits drei Jahre zuvor. Die Filmregisseure zogen nach, griffen den Furor von der Straße auf, brachten ihre Geschichten von wütenden Menschen und einem repressiven Staat auf die Leinwand. Bis die Filme zensiert und weggesperrt und den Regisseuren Arbeitsverbote auferlegt wurden.
In der damaligen ČSSR wurde der Zusammenhang zwischen neuen Ideen und Idealen in der Realität und im Kino besonders deutlich. In kaum einem anderen Land hinter dem Eisernen Vorhang wurde Mitte der 60er-Jahre so freudig und lustvoll experimentiert und alte Macht und Mächte genussvoll aufgespießt. Hier raubten dann die Geschehnisse rund um den Prager Frühling den Filmemachern den Atem.
In den USA bebte die Erde: "New Hollywood" eroberte die Kinos
Und schließlich Hollywood: Das behäbige Studiosystem, das in den 1950er Jahren vor allem Western, Musicals und Melodramen hervorgebracht hatte und sich zudem der neuen Konkurrenz des Fernsehens erwehren musste, war künstlerisch am Ende. Eine Reihe neuer, frischer Gesichter betrat die Bühne: Martin Scorsese und Peter Bogdanovich, Francis Ford Coppola und John Cassavetes. Sie alle erzählten ihre Geschichten auf der Leinwand nun ganz anders, Gewalt und Krieg spielten eine Rolle, auch die Auseinandersetzung mit Rassismus und Korruption in der Politik.
Als das Jahr 1968 dann endlich anbrach, hatten die Filmregisseure also schon vieles vorweggenommen, ästhetisch und mit ihren Geschichten und Erzählungen. Apropos Rassismus: Der Oscar und auch der Golden Globe gingen 1968 an ein und denselben Film, das Rassismus-Drama "In der Hitze der Nacht" des kanadische Regisseurs Norman Jewison - ein ehrenwerter Film ohne Frage, formal allerdings eher gediegen inszeniert.
Bei den Filmfestspielen in Cannes kam es zum Eklat, die Veranstaltung wurde abgebrochen, nachdem sich einige Regisseure mit den Studenten in Paris solidarisiert hatten und sich für eine Beendigung des Festivals ausgesprochen hatten. In Venedig gewann ein Deutscher, Alexander Kluge mit seinem Film "Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos", ein schöner Erfolg für den "Neuen Deutschen Film" damals. In Berlin errang der Schwede Jan Troell den Goldenen Bären für sein Werk "Raus bist du", der Fragen nach Autorität und Gehorsam an einer Schule thematisierte - ein typisches 68er-Thema.
Deutscher Filmpreisträger '68 mit bemerkenswerter Besetzung
Das trifft auch auf den Sieger des Deutschen Filmpreises in jenem Jahr zu: Johannes Schaafs "Tätowierung" erzählt, ähnlich wie Truffauts Doinel-Filme, von den Sorgen, Nöten und Träumen eines Heranwachsenden. Der Junge wurde von dem Schauspieler Christoph Wackernagel gespielt, der schloss sich danach der RAF an - auch das steht symbolisch für das Umbruchjahr 1968 im Kino.
Mehr über den jungen deutschen Autorenfilm, New Hollywood und andere filmische Experimente auch in unserer neuen Ausgabe von KINO.