Faktencheck: Bolsonaro und Brasiliens Indigene
7. September 2022Es ist Wahlkampf in Brasilien. Am 2. Oktober wählt das größte Land Südamerikas einen neuen Präsidenten. Amtsinhaber Jair Bolsonaro bewirbt sich um eine zweite Amtszeit, und dabei unterstützt ihn sein Sohn, Eduardo Bolsonaro, der selbst Politiker und Bundesabgeordneter ist. Und dieser bemängelt, das insbesondere der Einsatz seines Vaters für indigene Völker nicht ausreichend gewürdigt werde.
Behauptung: "Die Regierung von Bolsonaro ist die, die am meisten für die indigenen Völker Brasiliens getan hat, auch wenn dies von den Medien nicht anerkannt wird." (Tweet von Eduardo Bolsonaro vom 09.08.2022)
DW-Faktencheck: Falsch.
Als Beweis für seine Behauptung veröffentlichte Eduardo Bolsonaro, eine Liste mit elf Beispielen für die Unterstützung von Indigenen durch die Regierung seines Vaters. Neun Punkte widmen sich den Schutzmaßnahmen für Indigene während der Corona-Pandemie, zwei Punkte den Maßnahmen zum Schutz indigener Reservate. Doch selbst wenn auf den ersten Blick einige dieser Punkte zutreffen, läuft Bolsonaros grundlegende Politik den Interessen der Indigenen zuwider.
Kampf gegen Covid-19
Richtig ist die Behauptung, dass 90 Prozent der indigenen Bevölkerung bis Ende 2021 geimpft wurde. Nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums haben 90 Prozent der Indigenen ab 18 Jahren die erste Impfung und 85 Prozent die zweite Impfung bis zum 08.01.2022 bekommen. Außerdem wurden ebenfalls bis Mitte Januar 2022 insgesamt knapp neun Millionen medizinische Güter an die indigene Bevölkerung verteilt, darunter Schutzkleidung, Masken, Covid-19-Tests und Schmerzmittel.
Richtig ist aber auch, dass alle Unterstützungsmaßnahmen für die indigene Bevölkerung seitens der Regierung nicht freiwillig, sondern auf richterliche Anordnung erfolgten. Erst nach einem Urteil des Obersten brasilianischen Gerichtshofs STF (Supremo Tribunal Federal) vom 05.08.2020 erarbeitete die Regierung einen Plan zur Bekämpfung von Covid-19 in indigenen Gebieten, der auch den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessern sollte.
Die Klage war vom Indigenenverband Apib eingereicht worden. Der Verband reichte im vergangenen Jahr auch eine Klage gegen den Präsidenten beim Internationalen Strafgerichtshof von Den Haag ein. Er wirft Bolsonaro und seiner Regierung wegen seiner mangelhaften Corona-Politik und der Bedrohung des indigenen Lands Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord vor.
In Brasilien ist die gesundheitliche Versorgung der indigenen Bevölkerung gesetzlich vorgeschrieben. Nach einem 1990 erlassenen und vielfach angepasstem Gesetzist die brasilianische Regierung dazu verpflichtet, Indigene im Rahmen des öffentlichen nationalen Gesundheitssystems zu behandeln. Der Bund muss Länder und Kommunen dafür mit den nötigen Finanzmitteln ausstatten.
Ernährungssicherheit herstellen
Das Urteil des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahr 2020 verpflichtete die brasilianische Regierung auch, Grundnahrungsmittel an die Bewohner in indigenen Gebieten zu verteilen, um die Ernährungssicherheit während der Pandemie zu gewährleisten.
Der Abgeordnete Eduardo Bolsonaro schreibt in seinem Post auf Twitter, die Regierung habe 1,7 Millionen Körbe mit Grundnahrungsmitteln an 200.000 Familien verteilt. Laut der staatlichen Indigenenbehörde Funai waren es bis Ende Mai 1,3 Millionen Portionen.
Trotz des Verdikts des Obersten brasilianischen Gerichts und Bolsonaros Behauptungen "ist Brasilien weit davon entfernt, die in der Verfassung vorgeschriebene Ernährungssicherheit für Indigene zu garantieren". So steht es in einer Klagebegründung der Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Paraná vom 22. Mai dieses Jahres, in der es um die gefährdete Versorgung einer lokalen indigenen Gemeinschaft ging.
Die indigene Aktivistin Alessandra Korap Munduruku kann das nur bestätigen. "Auf den Staat kann man sich nicht verlassen. Die meisten Pakete mit Grundnahrungsmitteln haben während der Pandemie private Hilfsorganisationen verteilt", erklärt sie im Gespräch mit der der DW. "Ohne die NGOs wären wir verhungert. Sie haben auch Sauerstoff in die Reservate gebracht."
Alessandra Korap Munduruku ist Vize-Präsidentin der FEPIPA, dem Dachverband der indigenen Völker im Bundesstaat Pará. Sie ist auf Einladung des katholischen Hilfswerkes Misereor Ende August nach Deutschland gekommen.
Schutz der indigenen Gebiete
In Brasilien leben knapp 900.000 Indigene. Die Ureinwohner und ihre Nachfahren machen also weniger als ein Prozent der brasilianischen Bevölkerung aus. Nach Angaben des brasilianischen Statistikinstitutes IBGE leben knapp 60 Prozent der Indigenen in ausgewiesenen Reservaten.
Insgesamt sind bei der Indigenenbehörde Funai 680 Gebiete als indigenes Land registriert, was 13 Prozent der Fläche von Brasilien ausmacht. Davon sind rund zwei Drittel offiziell als Reservate anerkannt, die - zumindest auf dem Papier - einem gewissen Schutz unterstehen. Die Definition des rechtlichen Status der weiteren Gebiete ist noch nicht abgeschlossen.
Jair Bolsonaro brachte bereits während des Wahlkampfes 2018 seine Abneigung gegenüber Schutzgebieten von Indigenen zum Ausdruck. In einem TV-Interview kurz nach seiner Wahl wiederholte er seinen Standpunkt, dass es - soweit es von ihm abhinge - während seiner Amtszeit keine neue Ausweisung von Reservaten geben würde.
Bis jetzt hat er dieses "Versprechen" eingehalten. Laut dem brasilianischen Investigativportal "Agencia Publica" hat Bolsonaro nicht eine einzige Demarkierung offiziell anerkannt. Zum Vergleich: Fernando Henrique Cardoso (1995-2003) wies nach Angaben des katholischen Indigenen Missionsrates Cimi während seiner Amtszeit insgesamt 145 indigene Schutzgebiete aus. Bei Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2011), der erneut kandidiert, waren es 79.
Damit nicht genug: In den vergangenen vier Jahren gab es zahlreiche Initiativen, den Schutz bestehender Reservate auszuhöhlen und die bereits beschlossene Ausweisung indigener Gebiete zu blockieren oder hinauszuzögern. So stimmte der brasilianische Kongress im Februar dieses Jahres einem Gesetzesentwurf der Regierung zu, der den Abbau von Rohstoffen in Reservaten mit Zustimmung der Indigenen erlaubt.
Außerdem veröffentlichten das brasilianische Justizministerium und die Indigenenbehörde Funai am 16.04.2020 ein Dekret, das die Registrierung von Immobilien und Landbesitz in Indigenen Gebieten erlaubt, deren Ausweisung noch nicht vollständig abgeschlossen ist.
"Es braucht keine Gesetze mehr, um in den Reservaten Gold zu schürfen, Eisenerz abzubauen oder Rinder zu züchten", sagt Alessandra Korap Munduruku. "Die Zerstörung wird nicht bestraft, und damit ist die Invasion legal geworden."
Nach Angaben der zivilgesellschaftlichen Organisation Instituto Sócioambiental (ISA) wurden zum Beispiel zwischen Januar 2019 und Mai 2021 im Indigenengebiet Munduruku rund 2265 Hektar von Goldschürfern verwüstet (siehe Grafik). Bei einer Kontrolle der Bundespolizei gegen illegale Invasoren, die vom 23.5. bis 10.6.2021 angesetzt war, zogen sich die Ordnungshüter bereits nach fünf Tagen vorzeitig zurück. Dies ist kein Einzelfall. Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro werden Umweltstraftaten nur unzureichend verfolgt.
Auf das größte indigene Schutzgebiet Brasiliens, dem Reservat der Yanomami (siehe Grafik), scheint ein regelrechter Ansturm eingesetzt zu haben. Nach einem Bericht der spanischen Zeitung El Pais liegen der brasilianischen Agentur für Bergbau 500 Anträge für den Abbau von Rohstoffen auf einer Fläche von 3,3 Millionen Hektar vor. Dies entspricht rund einem Drittel der Fläche des Schutzgebietes.
Fazit: Der im Twitter-Post von Eduardo Bolsonaro behauptete "besondere Schutz der indigenen Völker Brasiliens" wird im Prinzip nicht mehr umgesetzt. Auch die Behauptung, Bolsonaros Regierung habe mehr als alle anderen Regierungen für Indigene getan, ist falsch. Denn erstens setzte sie Schutzmaßnahmen erst um, nachdem sie per Gerichtsurteil dazu gezwungen worden war. Und zweitens gibt es bei der Bekämpfung von Corona keine Vergleichsmöglichkeit zu Vorgängerregierungen.
Unter Mitarbeit von der brasilianischen Redaktion DW Brasil.