Putins Lüge über russische Angriffe in der Ukraine
2. Juli 2022Eine Rakete fliegt in ein Einkaufszentrum in Krementschuk - Menschen werden getötet, verletzt, das Gebäude zerstört. Tausende Ukrainer sind bisher im Angriffskrieg Russlands getötet worden. Täglich werden wir mit neuen Bildern der Zerstörung und des Leids der Menschen in der Ukraine konfrontiert. Dennoch behauptet die russische Regierung mit Wladimir Putin an der Spitze immer wieder: "Die russische Armee greift keine zivile Infrastruktur an". Doch Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und politische Organisationen beweisen das Gegenteil.
"Wir sehen hier ein eindeutiges Muster an Verletzungen des humanitären Völkerrechts, das die Zivilisten eigentlich schützen soll", sagt Wolfgang Benedek, der im Auftrag der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Völkerrechtsverstöße in der Ukraine untersucht hat, im DW-Interview. Russland berücksichtige das humanitäre Völkerrecht nicht, beziehungsweise nicht ausreichend, erklärt der Leiter der Expertenkommission zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte auf dem Territorium der Ukraine. Dass Russland keine zivile Infrastruktur angreife, sei eine "glatte Lüge".
Konkrete Fälle beweisen russische Angriffe auf zivile Ziele
Die Vereinten Nationen (UN) dokumentierten seit dem 24. Februar 4731 zivile Todesopfer sowie 5900 zivile Verletzte in der Ukraine (Stand 27. Juni) - rechnen aber mit noch höheren Zahlen. Auch das internationale Recherchekollektiv Bellingcat dokumentiert Angriffe auf zivile Infrastruktur seit Beginn des Angriffskrieg in der Ukraine detailliert in einer Karte.
"Wir haben eine große Zahl an zerstörter ziviler Infrastruktur und verletzten, getöteten Zivilisten gesehen", sagt Nick Water, Leiter der Justiz und Rechenschaftsabteilung von Bellingcat, im DW-Interview. Sie veröffentlichen in der Karte allerdings nicht, welche Kriegspartei konkret für die Angriffe verantwortlich ist, um sich nicht angreifbar zu machen. Einer der Hauptgründe, warum Bellingcat die Karte publik macht, sei aber, robuste Informationen zu liefern, um Verantwortliche in der Zukunft zur Rechenschaft zu ziehen.
Dennoch gibt es konkrete Fälle, in denen Organisationen und Journalisten Fakten dafür liefern, dass Russland für die Angriffe auf zivile Infrastruktur verantwortlich ist. Die DW hat sechs Beispiele herausgesucht, die bereits gut dokumentiert und untersucht wurden.
Angriff auf ein Einkaufszentrum in Krementschuk (27. Juni)
Russische Raketen trafen laut ukrainischen Angaben am 27. Juni ein Einkaufszentrum mit mehr als 1000 Besuchern in der Stadt Krementschuk. Mindestens elf Menschen seien getötet und mehr als 50 verletzt worden.
Das russische Außenministerium bestätigte den Angriff - erklärte aber auf seiner Webseite: Russische Soldaten "bombardierten einen Hangar mit Waffen und Munition, die aus den USA und Europa angekommen waren". Diese Munition habe das Einkaufszentrum in der Nähe in Brand gesetzt. Doch Russland liefert dafür keinerlei Belege.
Ein Video einer Überwachungskamera(hier archiviert), das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj veröffentlichte, zeigt den Angriff. Es ist zu sehen, wie die Rakete direkt oder unmittelbar am Einkaufszentrum einschlägt - also nicht, wie Russland behauptet, erst eine Fabrikhalle getroffen und dann das Shopping Center durch überspringendes Feuer zerstört wurde.
Der britische Geheimdienst schreibt auf Twitter, es bestehe die Möglichkeit, dass das Einkaufszentrum aus Versehen getroffen wurde und der Luftangriff etwas anderes in der Nähe treffen wollte. Recherchen von Bellingcat zeigen, dass auch Fabriken in der Nähe angegriffen wurden - das Einkaufszentrum aber eben auch getroffen wurde. Auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) veröffentlichte einen detaillierten Faktencheck dazu.
Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk (8. April)
Am Vormittag des 8. April kam es zu einem Raketenangriff auf den Bahnhof der Stadt Kramatorsk im Osten der Ukraine. Dort sollen sich zu dem Zeitpunkt etwa 4000 Menschen aufgehalten haben, sagte der Bürgermeister der Stadt, Olexandr Hontscharenko.
Etwa 15 Minuten nach dem Angriff trafen Reporter der Washington Post an dem Bahnhof ein. Sie berichteten von mindestens 20 Toten, darunter auch Kinder. Nach Angaben des Gouverneurs der Region, Pawlo Kyrylenko, gab es mindestens 50 Todesopfer und rund 100 Verletzte.
Vor dem Bahnhofsgebäude wurde eine Rakete vom Typ Tochka-U gefunden. Russland bestreitet, Raketen dieses Typs einzusetzen. Eine Recherche von Bellingcat legt jedoch nahe, dass die Tochka-U-Raketen sehr wohl von russischen Einheiten in der Ukraine eingesetzt wurden. Auch Amnesty International berichtet davon, dass dieser Raketentyp von Russland in der Ukraine zum Einsatz kam.
Das britische Verteidigungsministerium hält es für möglich, dass bei dem Angriff aufgrund der unpräzisen Steuerung der Waffen ein militärisches Ziel verfehlt wurde.
Massaker in Butscha (Ende März/Anfang April)
Die Bilder von Butscha, einer Stadt nahe Kiew, gingen Anfang April um die Welt. Hunderte von Leichen lagen auf den Straßen, nachdem russische Soldaten die Stadt Ende März verließen. Die Bewohner seien von russischen Soldaten getötet und teilweise misshandelt worden, hieß es von ukrainischer Seite.
Und Russland konterte wieder direkt: Auf Twitter schrieb das Außenministerium: Alles eine Lüge. "Alle Fotos und Videos, die das Kiewer Regime in Butscha veröffentlicht, sind nur eine weitere Provokation." Doch das stimmt nicht, wie das DW-Faktencheckteam schon im März recherchierte.
Eine Recherche der New York Times zeigt: Auf Satellitenbildern des US-Unternehmens Maxar ist zu erkennen, dass die Leichen schon seit dem 19. März, in einigen Fällen sogar seit dem 11. März auf der Yablunska Straße in Butcha lagen. Diese Aufnahmen sprechen klar gegen die russische Darstellung, wonach die Leichen erst nach dem Abzug der russischen Truppen am 30. März aufgetaucht seien.
Recherchen des Spiegel liefern weitere Hinweise, dass es russische Soldaten waren, die die Zivilisten in Butscha ermordeten. Wie das Nachrichtenmagazin berichtete, hat der deutsche Geheimdienst BND Funkverkehr der mutmaßlichen Täter von Butscha abgehört und mitgeschnitten. Demnach tauschten sich russische Soldaten via Funk über die Ermordung von Zivilisten aus. Das brutale Vorgehen sei kein Einzelfall, sondern gehöre zur Strategie von Putins Armee, so die Analyse des BND.
Auch der Bürgermeister von Butscha beschreibt im DW-Interview das schonungslose russische Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung. Etwa 90 Prozent der getöteten Zivilisten wiesen Schusswunden auf, so Anatolij Fedoruk. Russland bestreitet weiterhin jegliche Verantwortung für die Gräuel von Butscha.
Angriff auf das Theater von Mariupol (16. März)
Das Theater der Stadt Mariupol wurde am Morgen des 16. März von mindestens einer Bombe getroffen und zerstört. Eine Untersuchung der Nachrichtenagentur AP geht davon aus, dass bei dem Angriff mindestens 600 Menschen ums Leben kamen. Amnesty International nennt in ihrem Bericht eine geringere Zahl an Getöteten, identifiziert den Bombenangriff aber als "russisches Kriegsverbrechen".
In dem Theater der zum damaligen Zeitpunkt umkämpften Stadt hatten zahlreiche Zivilisten Zuflucht gesucht.
So kommt auch die Expertenkommission der OSZE zu dem Ergebnis, dass "die weitgehende Zerstörung (…) des auf beiden Seiten mit der Aufschrift 'Kinder' gekennzeichneten Theaters in Mariupol, in dem hunderte Schutzsuchende ums Leben kamen, sehr wohl auf russische Bombardierung zurückzuführen sei." Für eine Zerstörung durch das ukrainische Asov-Regiment, wie von russischer Seite behauptet, gebe es hingegen nach Auswertung der vorhandenen Quellen keine Anhaltspunkte.
Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol (9. März)
Anfang März berichteten mehrere Medien, dass Russland eine Geburtsklinik in Mariupol beschossen habe. In einem Interview mit der BBC berichtete der Bürgermeister Sergei Orlov einen Tag nach dem Angriff von mindestens drei Toten, davon einem Kind, sowie mindestens 17 Verletzen, hauptsächlich Schwangeren und Ärzten.
Russland dementierte den Angriff, unter anderem schrieb die russische Botschaft des Vereinigten Königreichs auf Twitter, das Krankenhaus sei gar nicht mehr in Betrieb gewesen und stattdessen für militärische Zwecke genutzt worden. Das ist falsch. Der Tweet wurde mittlerweile gelöscht, ist durch eine Archivierung aber noch einsehbar.
Es gibt Beweise für den Angriff auf die Geburtsklinik. Die Vereinten Nationen (UN) verifizierten und dokumentierten laut eigenen Angaben den Angriff auf das Krankenhaus und bestätigten, dass es während des Luftangriffs in Betrieb war.
Auch Journalisten der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) dokumentierten die Folgen des Angriffs direkt danach filmisch. Zu sehen sind unter anderem verletzte schwangere Frauen, die aus dem zerstörten Krankenhaus auf Liegen herausgetragen werden. Auch Fotos von den Folgen des Beschusses wurden beispielsweise von AP und der dpa veröffentlicht.
Streubombe trifft Kindergarten in Okhtyrka (25. Februar)
Nur einen Tag nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde ein Kindergarten in der Stadt Okhtyrka von Streubomben getroffen. Bei dem Angriff sollen drei Menschen, darunter ein Kind, getötet worden sein. Eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet vom Einschlag einer 220mm Uragan Rakete in der Nähe des Kindergartens. Eine Drohnenaufnahme zeigt das Gebäude nach dem Angriff.
Eine Auswertung öffentlicher Quellen von Bellingcat zu dem Angriff kommt zu dem Schluss, dass sich russische Truppen zum Zeitpunkt des Angriffs in und um Okhtyrka aufgehalten haben und es sehr wahrscheinlich ist, dass der Angriff von diesen Truppen ausging.