Faktencheck: Kommen 2022 mehr Flüchtlinge als 2015/2016?
16. November 2022Behauptung: Deutschland hat im Zeitraum von Januar bis Oktober mehr Flüchtlinge aufgenommen als 2015.
"Eine Million Ukraine-Vertriebene leben derzeit in der BRD. Zahl der Asylbewerber steigt rasant. […] Zahlen des Rekordjahres 2015 werden 2022 wohl überschritten. Schafft Deutschland das?", heißt es in einem Tweet des Politikers und Rechtsanwaltes Fatih Zingal am 2.10.2022.
DW Faktencheck: Richtig.
Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben von Januar bis Oktober 2022 insgesamt 181.612 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 150.332 Anträge, was einer Zunahme von 20,8 Prozent entspricht.
Hinzu kommen rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Laut Bundesinnenministerium waren "am Stichtag 08. November 2022 insgesamt 1.024.841 Personen als aufhältig im Ausländerzentralregister (AZR) erfasst, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 nach Deutschland eingereist sind". Ukrainerinnen und Ukrainer müssen keinen Asylantrag stellen, sondern erhalten Flüchtlingsschutz mithilfe eines gesonderten schnelleren Verfahrens.
Insgesamt haben also bis zum 8. November dieses Jahres 1,2 Millionen Menschen in Deutschland Schutz gesucht (siehe Grafik). Im Vergleich dazu stellten 2015 und 2016 - als es vor allem wegen des Bürgerkriegs in Syrien eine verstärkte Fluchtbewegung nach Europa gab -laut BAMF insgesamt 1,187 Millionen Menschen einen Asylantrag in Deutschland. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres haben somit knapp 20.000 Menschen mehr in Deutschland Zuflucht gesucht als in den beiden Jahren 2015 und 2016 zusammen.
Behauptung: Die gleichzeitige Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine und Afghanistan sowie Asylsuchenden aus anderen Ländern bringt Kommunen an ihre Belastungsgrenze.
"Die Lage ist sehr ernst. In vielen Städten sind alle Aufnahmeeinrichtungen voll belegt und das schon vor dem Winter", heißt es in einem Statement von Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, Vizepräsident des Deutschen Städtetags.
DW-Faktencheck: Richtig.
Eine DW-Umfrage unter den 16 deutschen Bundesländern bestätigt die angespannte Lage in den meisten Ländern, Landkreisen und Kommunen bei der Registrierung, Unterbringung und Betreuung von Schutzsuchenden. Um sie unterzubringen, werden in vielen Bundesländern zusätzliche Notunterkünfte geschaffen.
"Wir erleben derzeit die permanente Überfüllung", heißt es etwa aus dem Berliner Amt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). "Es gibt kaum noch Platz, aber alle müssen Flüchtlinge aufnehmen. Insofern ist dies der Zeitpunkt für Notunterkünfte."
In Berlin ist der Andrang besonders groß. Laut einer Statistik des LAF hat der Stadtstaat im Zeitraum von Januar bis Oktober 10.783 Asylsuchende aufgenommen. Hinzu kommen rund 100.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge, von denen aber die meisten privat untergekommen sind.
Insgesamt wurden im Berliner Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel, dem größten Verteilzentrum Deutschlands, im genannten Zeitraum die Anliegen von 67.000 ukrainischen Flüchtlinge bearbeitet. Außerdem nahmen die Behörden 16.704 Asylanträge entgegen, was zeigt, wie hoch der Arbeitsaufwand ist.
Aufnahmeprogramm für Flüchtende aus Afghanistan
In Deutschland ist die Aufnahme von Asylsuchenden durch die Bundesländer gesetzlich verpflichtend. Welches Bundesland wie viele Flüchtende aufnehmen muss, wird nach einem Verteilungsmechanismus berechnet ("Königsteiner Schlüssel"), dem Einwohnerzahlen und Steueraufkommen zu Grunde liegen.
Ukrainische Flüchtlinge sind von der Registrierung in einem Erstaufnahmezentrum befreit, da sie kein Asyl beantragen müssen. Wenn sie nicht privat unterkommen, müssen Bundesländer, Landkreise sowie Städte und Kommunen ebenfalls für ihre vorläufige Unterbringung sorgen.
Dies trifft auch auf Flüchtende aus Afghanistan zu, die im Rahmen eines neuen humanitären Aufnahmeprogramms nach Deutschland kommen, das am 17. Oktober angelaufen ist. Vorgesehen ist die Aufnahme von 1000 Menschen pro Monat.
Die Unterbringung der Flüchtenden gestaltet sich mittlerweile in den meisten Bundesländern und Kommunen schwierig. Auch wenn alle Personengruppen unterschiedlich erfasst werden, "wenn es um die Unterbringung geht", so Monika Hebbinghaus vom LAF, "muss man die Personen aufaddieren".
Am Beispiel Baden-Württemberg lässt sich der Kraftakt von Kommunen und Ländern nachvollziehen: So wurden in diesem Jahr laut Regierungspräsidium Karlsruhe die Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes für Asylsuchende von 6000 auf 13.500 ausgebaut. Die Kapazitäten bei der vorläufigen Unterbringung in Städten und Landkreisen, Anlaufstelle für registrierte Asylsuchende und ukrainische Flüchtlinge, wurde von 22.000 (Sommer 2021) auf aktuell 54.000 Plätze aufgestockt.
Notunterkünfte in Kommunen
Auch Brandenburg stockt auf. Das Land hat das Aufnahmesoll für Landkreise und Städte in diesem Jahr von ursprünglich 4390 auf 35.990 Personen erhöht. Für Sachsen-Anhalt erklärte die Sprecherin des Innenministeriums, Franziska Höhnl, auf DW-Anfrage: "Es wird es immer schwieriger, Wohnraum zu finden, insbesondere in den Städten Magdeburg und Halle."
Nur im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern scheint der Andrang noch überschaubar zu sein. Nach Angaben des Landesinnenministeriums gab es im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Oktober insgesamt 3442 Asylbewerberzugänge. Das Land habe seine Aufnahmequote mit "einer Person übererfüllt".
Angesichts der Entwicklung hat Bayerns Innen- und Integrationsminister Joachim Herrmann den Start des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan kritisiert: "In Zeiten ohnehin bereits hoher Zugangszahlen noch zusätzliche Aufnahmeprogramme zu starten, ist ein falsches Signal", erklärte er in einer Pressemitteilung.
Die Bundesflüchtlingsbeauftragte Reem Alabali-Radovan räumte im Gespräch mit der DW ein, dass "die Kommunen gerade in Teilen an ihre Kapazitätsgrenzen kommen". Sie sei dennoch "froh, dass das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan nun endlich auf den Weg gebracht worden ist. Wenn wir die Lage in Afghanistan und im Iran anschauen", so die Beauftragte, "dann muss uns klar sein, dass wir nicht länger warten können".
Korrektur am 16.11.2022: In einer früheren Version dieses Artikels war die Zahl der Asylanträge von Januar bis Oktober 2022 und 2021 nicht korrekt. Dies wurde korrigiert. Die Redaktion bittet den Fehler zu entschuldigen.
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