Faktencheck: Haben die Taliban ihre Versprechen gehalten?
15. August 2022Die Rechte der Frauen werden im Rahmen des islamischen Rechts geachtet
Behauptung: Auf seiner ersten Pressekonferenz im August 2021 betonte der Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid: "Frauen werden in der Gesellschaft sehr aktiv sein, jedoch innerhalb der Vorgaben des Islam." Innerhalb dieser Vorgaben sollte es ihnen erlaubt sein, zu arbeiten und zu studieren.
DW-Faktencheck: Falsch
Als die Taliban die Macht ergriffen, fürchteten viele, dass sich ihre Herrschaft als ebenso hart gegen Frauen erweisen würde wie in den 1990ern. Ein Jahr danach haben die Taliban viele Regeln eingeführt, die das Leben von Frauen einschränken.
In der Öffentlichkeit müssen sich Frauen von Kopf bis zu den Zehenspitzen bedecken. Verbirgt eine Frau außerhalb des eigenen Heims ihr Gesicht nicht, können ihr Vater oder der engste männliche Verwandte verhaftet oder aus dem Staatsdienst entlassen werden. Frauen ist es nicht gestattet, ohne einen männlichen Vormund ein Flugzeug zu besteigen. Bei diesem Vormund muss es sich um den Ehemann oder einen engen männlichen Verwandten jenseits der Pubertät handeln.
Der Zugang zu öffentlichen Parks ist in Afghanistan nach Geschlechtern getrennt. Drei Tage in der Woche sind den Frauen vorbehalten, vier den Männern. Ein Erlass legt es Frauen jedoch dringend nahe, das Haus nur zu verlassen, wenn es notwendig ist.
Bei diesen Entscheidungen berufen sich die Taliban auf Sicherheitsbedenken. Doch Gelehrte widersprechen. Sie sind der Überzeugung, dass solche Einschränkungen nicht durch islamisches Recht gedeckt sind. Der in Afghanistan lebende Religionsgelehrte Sayed Abdul Hadi Hedayat spricht sich gegen die Art und Weise aus, in der die Taliban afghanischen Frauen Vorschriften über die Verhüllung ihres Körpers machen. "Muslimische Kleriker und Länder sind sich einig, was den Hidschab selbst betrifft, doch es gibt unterschiedliche Ansichten über die Art des Hidschabs", erklärt er im Gespräch mit der Deutschen Welle und fügt hinzu, dass Gesicht, Hände und Füße nicht zu den Zonen gehören, die dem Islam zufolge bedeckt werden müssen.
Auch der Zugang zu Arbeit wurde von den Taliban in bestimmten Bereichen eingeschränkt. "Die Mehrzahl der weiblichen Regierungsangestellten wurde angewiesen, zuhause zu bleiben, mit Ausnahme der Frauen, die in solchen Bereichen wie dem Gesundheits- oder Bildungswesen arbeiten", stellt Amnesty International in einem Bericht fest. "Die Strategie der Taliban scheint zu sein, nur solche Frauen weiter arbeiten zu lassen, die nicht durch Männer ersetzt werden können." Viele Frauen, die hohe Positionen bekleideten, wurden entlassen - auch im Privatsektor.
Dieses Vorgehen steht im Widerspruch zu islamischen Grundsätzen. "Im Islam wurden Frauen gleichberechtigt behandelt, gerade im Bereich der Bildung", betont Farid Younos, emeritierter Professor für Nahoststudien und Islamische Philosophie an der California State University, East Bay. Er verweist auf die wichtige Rolle, die Frauen im Laufe der Geschichte im Bereich Bildung gespielt haben, und führt das Beispiel der Frau und Tochter des Propheten Mohammed an.
Der islamischen Lehre zufolge ist Bildung sowohl für Männer als auch für Frauen obligatorisch, erklären Hedayat und Younos. "Die islamische Scharia wendet sich nicht gegen die Bildung und Arbeit von Frauen, denn ohne Frauen kann die Gesellschaft nicht funktionieren und florieren", unterstreicht Hedayat.
Frauen, die gegen die von den Taliban eingeführten Einschränkungen und Regelungen protestierten, wurden schikaniert, bedroht, verhaftet und sogar gefoltert, so Amnesty International.
Mädchen bleibt der Schulbesuch erlaubt
Behauptung: Jüngere Mädchen konnten einige Wochen nach der Machtergreifung der Taliban wieder in den Unterricht zurückkehren, wenn auch in nach Geschlechtern getrennten Klassen. Schülerinnen an weiterführenden Schulen blieb der Schulbesuch jedoch verwehrt. Am 21. September verkündete Taliban-Sprecher Mujahid, das Bildungsministerium arbeite intensiv daran, "so schnell wie möglich die Voraussetzungen für den Besuch weiterführender Schulen für Mädchen zu schaffen". Ein Zeitrahmen wurde nicht genannt.
DW-Faktencheck: Falsch
Im März gab das Bildungsministerium bekannt, dass die Klassen allen Schüler offen stünden, auch den Schülerinnen. Am Tag darauf jedoch, als die Mädchen zum ersten Mal in der Schule erschienen, nahm das Ministerium die Anordnung wieder zurück und forderte die Mädchen auf, die Schule zu verlassen. Als Grund wurden ein Mangel an Lehrern und Schwierigkeiten mit den Schuluniformen genannt. Sobald ein Plan im Einklang mit dem "islamischen Recht und der afghanischen Kultur" ausgearbeitet worden sei, würden die Schulen für Mädchen geöffnet. Getan hat sich seitdem nichts.
Generalamnestie für ehemalige Feinde
Behauptung: Am 17. August 2021 erklärte Taliban-Sprecher Mujahid: "Ich möchte allen Landsleuten versichern, dass sie wichtig waren, ob sie nun als Übersetzer gearbeitet haben, an militärischen Aktivitäten beteiligt oder Zivilisten waren. Niemandem wird mit Rachlust begegnet." Er fügte hinzu: "Tausende von Soldaten haben uns nach der Besetzung zwanzig Jahre lang bekämpft. Sie alle wurden begnadigt."
DW-Faktencheck: Falsch
Amnesty International berichtet zwar von einer ersten "Welle von Vergeltungsmorden, […] losgetreten durch die Machtübernahme der Taliban", sowie "Haus-zu-Haus-Fahndungen" nach angeblichen "Kollaborateuren" in den Tagen nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul. Offenbar haben die Islamisten danach aber nicht den befürchteten umfassenden Rachefeldzug gegen ehemalige Feinde geführt.
Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) verzeichnet jedoch zwischen dem 15. August 2021 und dem 15. Juni 2022 mindestens 160 außergerichtliche Hinrichtungen, 178 willkürliche Verhaftungen, 23 in Isolationshaft gehaltene Gefangene und 56 Fälle von Folter an ehemaligen Regierungs- und Sicherheitsbeamten durch die Behörden der Taliban. Der Bericht der Unterstützungsmission zu Menschenrechten in Afghanistan kommt zu dem Schluss, dass in mehreren Fällen die Amnestie nicht befolgt wurde.
Nicht enthalten in diesen Zahlen sind Dutzende von außergerichtlichen Tötungen, Misshandlungen und willkürliche Verhaftungen von angeblichen Mitgliedern des "Islamischen Staates - Khorasan" und der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF). Bis September letzten Jahres verteidigte die NRF das Pandschir-Tal gegen die Taliban. Sie versucht noch immer, die Kontrolle über die Region zurückzuerlangen.
Im Juni berichtete Amnesty International über "Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und willkürliche Verhaftungen von Zivilisten (die beschuldigt werden, NRF-Mitglieder zu sein) durch die Taliban in der Provinz Pandschir". Zaman Sultani, ein Südasien-Forscher bei Amnesty, schreibt, dass sich diese Praxis immer mehr verbreiten würde.
Keine Bedrohungen für Journalisten
Behauptung: Sprecher der Taliban haben der Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) das Versprechen gegeben, sich an die Grundsätze der Unabhängigkeit der Medien und der Pressefreiheit zu halten, solange diese nicht in den "kulturellen Rahmen" der Taliban eingreifen.
DW-Faktencheck: Falsch.
Nur wenige Tage nach ihrer Machtübernahme in Kabul töteten Taliban-Kämpfer einen Verwandten eines von ihnen gejagten DW-Journalisten. Im September 2021 berichtete der Internationale Journalistenverband (IFJ), dass Fahim Dashti, der Vorsitzende der Nationalen Journalistengewerkschaft Afghanistans (ANJU), bei einem Zusammenstoß zwischen Taliban und Kämpfern der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) getötet wurde.
Menschenrechtsorganisationen sagen, sie hätten keine konkreten Beweise dafür, dass Journalisten von den Taliban getötet wurden. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass sich die Pressefreiheit seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban verschlechtert hat. Von den über 10.000 Menschen, die im Juli 2021 in afghanischen Nachrichtenredaktionen tätig waren, arbeiteten laut einem RoG-Bericht zufolge im Dezember 2021 nur noch 4360. Darüber hinaus hieß es, 231 von 543 Medien, die im Sommer 2021 in Betrieb waren, seien in den ersten drei Monaten der Taliban-Herrschaft verschwunden. Einer von ANJU und IJF durchgeführten Umfrage zufolge wurden seit der Übernahme durch die Taliban sogar 318 nationale Medien geschlossen.
Im Januar 2022 sagte ein Taliban-Sprecher der DW, das Regime habe keine Medien im Land geschlossen. Einige hätten jedoch aufgehört zu arbeiten, nachdem ihnen die Finanzierung ausgegangen sei. Im selben Interview gab er zu, dass die Medienberichterstattung in Afghanistan Regeln folgen müsse, die in westlichen Ländern als sehr restriktiv empfunden werden könnten.
Im März blockierten die Taliban die Angebote mehrerer internationaler Medien, darunter der BBC, von Voice of America und der DW. Einen Monat später wurde mindestens ein Dutzend Journalisten in Afghanistan festgenommen, was die UN dazu veranlasste, die Taliban aufzufordern, willkürliche Festnahmen von Journalisten zu beenden. Laut der ANJU-Umfrage sind fehlender Zugang zu Informationen, Selbstzensur, die Angst vor Repressalien und die Wirtschaftskrise die Hauptgründe für einen "beispiellosen Zusammenbruch der afghanischen Medien". Während ein Drittel der Befragten angab, lokalen und nationalen Medien zu misstrauen, gaben fast neun von zehn Menschen an, internationalen Medien zu vertrauen.
Keine illegalen Drogen mehr aus Afghanistan
Behauptung: Nach der Machtübernahme der Taliban sagte Sprecher Zabihullah Mujahid: "Wir versichern unseren Landsleuten und der internationalen Gemeinschaft, dass wir keine Drogen produzieren werden." Er erinnerte die Welt daran, dass die Taliban die Produktion von auf Mohn basierenden Drogen im Jahr 2000 auf Null gebracht hatten, und versprach internationale Hilfe, um alternative Feldfrüchte bereitzustellen.
DW-Faktencheck: Unbewiesen
Afghanistan war jahrzehntelang mit Abstand der weltweit größte Produzent und Exporteur von Heroin und Opium. Laut Untersuchungen des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) stellte das Land im Jahr 2020 rund 85 Prozent aller nicht-pharmazeutischen Opioide weltweit bereit.
Anfang April dieses Jahres verboten die Taliban den Mohnanbau und drohten Bauern bei Zuwiderhandlung mit Haftstrafen und dem Niederbrennen ihrer Felder. Der stellvertretende Innenminister für Drogenbekämpfung, Mullah Abdul Haq Akhund, sagte AP, dass die Taliban mit anderen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen kooperierten, um alternative Feldfrüchte zu finden, um den Bauern ein Einkommen zu verschaffen.
Bisher scheinen sich die Taliban an dieses Versprechen zu halten. Laut einer Studie der Weltbank aus dem Jahr 2004 ist die Mohnproduktion in Afghanistan nach dem Taliban-Anbauverbot im Jahr 2000 auf fast Null gesunken. Erst nach dem Sturz des Regimes durch die Vereinigten Staaten Ende 2001 war sie wieder angestiegen.
Experten zweifeln jedoch an der Effektivität und Nachhaltigkeit der jetzigen Bemühungen zur Ausrottung der Opioidproduktion, ungeachtet dessen, dass ein Erfolg bei diesem Unterfangen positive Auswirkungen auf die Außenbeziehungen haben könnte. Schließlich ist der Drogenhandel ein wichtiger Teil der Wirtschaft des Landes und erwirtschaftete 2021 Einnahmen zwischen 1,8 und 2,7 Milliarden US-Dollar. Der Gesamtwert der Opiate machte neun bis 14 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus.
Angesichts anderer globaler Herausforderungen und erheblicher Menschenrechtsprobleme könnte die ausländische Hilfe sowohl hinter den Erwartungen der Taliban als auch hinter dem finanziellen Bedarf des Landes zurückbleiben, um die wirtschaftlichen Nachteile der Einstellung der Drogenproduktion zu bewältigen, sagt der Südasien-Analyst Shehryar Fazli.
Die Eindämmung des Opiumshandels könnte den bewaffneten Gegnern der Taliban die Möglichkeit geben, die Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung für sich zu nutzen, genau so, wie die Eindämmungsversuche zu Zeiten der Republik den Taliban-Aufständischen diese Möglichkeit gaben.
Erstellt unter Mithilfe von Rachel Baig und Shakila Ebrahimkhil.
Adaptiert aus dem Englischen von Thomas Latschan und Phoenix Hanzo.