Fakten und Fragen zum NSU-Prozess
7. Dezember 2015Warum?
Warum musste mein Vater, mein Mann, mein Bruder sterben? Warum explodierte bei uns eine Bombe? Diese Fragen quälen die Nebenkläger im Verfahren um die Verbrechen des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Das Warum ist die wichtigste Frage, auf die sie von Beate Zschäpe gerne eine Antwort hätten.
Fast 250 Verhandlungstage und 500 Zeugenbefragungen gab es, seit der NSU-Prozess gegen Zschäpe und vier Mitangeklagte im Mai 2013 begann. Doch wie die Täter ihre Opfer auswählten, blieb offen. Neun Männer wurden mitten im Arbeitsalltag erschossen: Händler, Verkäufer, Ladenbesitzer. Acht hatten türkische, einer griechische Wurzeln. Der letzte bekannte NSU-Mord war der an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, ihr Kollege wurde lebensgefährlich verletzt. Alles zufällige Opfer? Bis heute weiß man das nicht.
Nach den Morden wurden die Getöteten als Mitglieder der "Türken-Mafia" oder Drogendealer diffamiert, die Angehörigen von der Polizei als Täter verdächtigt. Vor dem Oberlandesgericht in München traten sie als Nebenkläger und Zeugen auf, die ihren Schmerz und ihre Fragen in den Prozess einbrachten.
Wer war der "NSU", wer hat ihn unterstützt?
Alle reden vom "NSU-Trio": Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe lebte zusammen mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 13 Jahre unter falschen Namen, zuletzt in der Zwickauer Frühlingsstraße. Radikalisiert hatten sich die drei im rechtsextremistischen "Heimatschutz Thüringen", geleitet von einem V-Mann des Verfassungsschutzes. 1998 tauchten die drei unter, doch sie blieben offenbar gut vernetzt. Im Prozess wurden viele Zeugen aus der rechten Szene befragt.
Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der Familienangehörige von zwei Mordopfern aus Nürnberg vertritt, spricht von 28 Unterstützern, die man im Prozess namentlich ermitteln konnte: "Der eine hat ein Nazi-Spielchen gebaut und verkauft, die Erlöse wurden dem Trio gespendet. Der andere hat eine Wohnung besorgt, der dritte das Auto weggebracht, der vierte hat Ausweispapiere besorgt." Man könne sich vorstellen, "wie viele Personen es geben muss, von denen wir noch nichts wissen."
Mundlos und Böhnhardt gelten als Haupttäter des NSU-Terrors. Nach einem Banküberfall in Eisenach am 4. November 2011 fand die Polizei sie tot in einem brennenden Wohnmobil - erschossen. Die Bundesanwaltschaft klagte Beate Zschäpe wegen gemeinschaftlich geplanter Morde, Bombenanschläge und Raubüberfälle als Mittäterin an, die alles mit vorbereitete und Zuhause die Stellung hielt. Nur bei einem Mord soll sie in Tatort-Nähe gewesen sein.
Was kann man Beate Zschäpe nachweisen?
"Was die Beweislage angeht, steht sie mit dem Rücken zur Wand", sagt Nebenklage-Anwalt Sebastian Scharmer. Er rechnet mit ihrer Verurteilung, daran könne auch eine Aussage wenig ändern. Eine zentrale Rolle spiele die Brandstiftung in der Frühlingsstraße nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt. In mühevoller Kleinarbeit habe das Gericht Indizien gesammelt, die nahelegten, dass Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Brand setzte, um Spuren zu verwischen, und dabei das Leben einer 89-jährigen Nachbarin aufs Spiel setzte.
Als sich Zschäpe vier Tage später der Polizei stellte, waren an ihren Socken Spuren von Benzin, man fand Protokolle von Zschäpes Internet-Aktivitäten vor der Brandstiftung und Benzinkanister in der Wohnung. Es gibt Zeugen, die Zschäpe zur Tatzeit weglaufen sahen. Allein die Brandstiftung spricht für sich, argumentiert Scharmer: Hätte Zschäpe nichts gewusst, hätte sie keine Spuren beseitigen müssen.
Damit nicht genug: Im Schutt der Wohnung fand man zahlreiche Hinweise auf die Taten der mutmaßlichen NSU-Terroristen: ein großes Waffenarsenal, Kartenmaterial zu den Tatorten und Zeitungsartikel über den NSU-Terror, die auch im Bekennervideo auftauchen. Fingerabdrücke von Zschäpe wurden an zwei Zeitungsartikeln und an einem Umschlag der DVD mit dem Bekennervideo gefunden. Mindestens 15 DVDs soll Zschäpe an Multiplikatoren verschickt haben. Das Video verhöhnt die Opfer. Es kombiniert Tatort-Fotos der Getöteten mit Medienberichten über die Taten und Sprüchen der Comicfigur Paulchen Panther.
Gab es Mittäter?
"Gamze Kubasik hat jeden Tag das Gefühl, sie könnte Mittätern, Mit-Mördern an ihrem Vater über den Weg laufen", berichtet Sebastian Scharmer über seine Mandantin. Der Kiosk in Dortmund, in dem Mehmet Kubasik erschossen wurde, war für Ortsfremde nicht leicht auffindbar. Das gilt für mehrere Tatorte. "Wir glauben, dass es an den meisten Tatorten Helfernetze gab", sagt Mehmet Daimagüler.
Auch seine Mandanten mache der Gedanke nervös, dass noch Täter und Helfer auf freiem Fuß sein könnten. Der Anwalt erinnert an den Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse. Im Geschäft einer iranischen Familie deponierte ein Mann eine Christstollen-Dose mit einer Bombe. Bei der Explosion wurde die Tochter der Familie schwer verletzt. Die Beschreibung des Mannes, der die Bombe hinterließ, hatte keine Ähnlichkeit mit Mundlos und Böhnhardt, sagt Daimagüler. Die Bundesanwaltschaft wischte das beiseite und unterstellte den Zeugen, sie erinnerten sich nicht richtig.
Ähnliches habe sich bei den Untersuchungen zur Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter wiederholt. Auch hier hatten Zeugen Personen gesehen, deren Beschreibung weder auf Mundlos noch Böhnhardt passe. Aus den Erkenntnissen im Prozess folgert der Berliner Rechtsanwalt: "Ich glaube, dass das Gerichtsverfahren sehr deutlich demonstriert hat, dass die Idee einer isolierten Zelle mit drei Personen als Mitglieder nicht mehr ist als ein Hirngespinst der Bundesanwaltschaft."
Welche Rolle spielen Verfassungsschutz und V-Leute?
"Der Verfassungsschutz hat seit dem Auffliegen des NSU auf allen Ebenen gemauert", sagt Daimagüler. Im November 2011 habe man im Bundesamt für Verfassungsschutz "sofort die Schreddermaschinen angeworfen". Vernichtet wurden Akten zu V-Leuten rund um den "Thüringer Heimatschutz", aus dem der NSU entstanden ist.
Über 30 V-Leute waren im Umfeld des NSU-Trios aktiv, rechnet Nebenklage-Anwalt Sebastian Scharmer zusammen. Wichtig für seine Mandantin sei die Frage, ob man die Morde hätte verhindern können. Es gebe Hinweise, wonach sowohl der V-Mann "Piatto" als auch V-Mann "Tarif" den Verfassungsschutz informierten, wie das NSU-Trio gefasst werden könnte. Es wurde nichts unternommen.
Fassungslos machte viele Nebenkläger der Auftritt von Andreas T. vor Gericht. Der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes war in dem Internet-Café, in dem das neunte Mordopfer Halit Yozgat erschossen wurde. Andreas T. meldete sich nicht bei der Polizei und bestreitet bis heute, irgendetwas von dem Mord mitbekommen zu haben. Bei einer Rekonstruktion am Tatort wirkte sein Verhalten so absurd, dass die Filmaufnahmen davon im Gerichtssaal ungläubiges Gelächter auslösten.
Aufklärung und Reue der Angeklagten?
Auf eine umfassende Aufklärung durch Beate Zschäpe macht sich Gamze Kubasik keine großen Hoffnungen. "Ich befürchte, sie will nur ihre eigene Haut retten", sagte sie dem Tagesspiegel. Auch Juristen dämpfen die Erwartungen, denn Zschäpe will auf Fragen der Nebenkläger nicht antworten, das kündigte ihr Anwalt Mathias Grasel an. Eine Aussage Zschäpes hatten sich viele Nebenkläger gewünscht. "Wenn sie schweigen würde, würde mich das sehr wütend machen", sagte Semiya Simsek, Tochter des ersten Mordopfers, vor dem Prozess der DW.
Gerichtssprecherin Andrea Titz betont: "Jeder Angeklagte hat nicht nur das Recht zu schweigen, sondern auch zu lügen, und dieses Lügen kann ihm nicht straferschwerend zur Last gelegt werden."
Empathie mit den Opfern ließ Zschäpe bisher nicht erkennen. Mehmet Daimagüler sitzt im Gerichtssaal wenige Meter von ihr entfernt: "Frau Zschäpe hat relativ desinteressiert das Ganze verfolgt. Nur als irrtümlich ein Obduktionsfoto von Uwe Mundlos an die Wand geworfen wurde, da war sie sichtlich geschockt."
Ganz anders hat der Anwalt den Angeklagten Carsten S. erlebt, der ein umfassendes Geständnis ablegte und die rechte Szene schon vor Jahren verlassen hat. S. habe sich Bilder der Opfer "sehr intensiv angeschaut. Man konnte in den Augen ein Entsetzen sehen." Carsten S. berichtete von der sogenannten Taschenlampen-Bombe, von der auch die Bundesanwaltschaft nichts wusste. Daimagülers Mandanten bedankten sich bei Carsten S. für sein Geständnis: "Ich hatte das Gefühl, dass ihm da die Tränen in den Augen standen."