Faeser setzt auf Härte gegen organisierte Kriminalität
7. August 2023Ende Juni waren es Massenschlägereien im Ruhrgebiet zwischen syrischen und libanesischen Großfamilien. Ende Mai war es der Urteilsspruch gegen sechs sogenannte Clanangehörige wegen des Diebstahls von Juwelen im Wert von über 100 Millionen Euro aus dem Grünen Gewölbe in Dresden. In Berlin zieht sich seit über 100 Prozesstagen ein Gerichtsverfahren wegen Erpressungsvorwürfen im Rapper-Milieu: Sogenannte "Clankriminalität" findet häufig den Weg in die Schlagzeilen.
Der Begriff ist allerdings umstritten. Kritiker bemängeln die Stigmatisierung ganzer Großfamilien, da nicht erwiesen sei, wie viele Familienmitglieder tatsächlich kriminell seien. Ungeachtet dessen gibt jedoch etwa das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen seit 2018 einen eigenen "Lagebericht Clankriminalität" heraus. Gleich im Vorwort der jüngsten Ausgabe heißt es: "Kriminelles Verhalten von türkisch-arabischen Clanangehörigen ist Gegenstand der öffentlichen Wahrnehmung und verfügt darum neben der polizeilichen auch über eine politische Relevanz."
Diese politische Relevanz hat die "Clankriminalität" sogar in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP katapultiert: Ihre Bekämpfung wurde zu einem Schwerpunkt erklärt. Politisch relevant ist diese Sonderform der organisierten Kriminalität derzeit umso mehr, als in diesem Oktober Landtagswahlen in den Bundesländern Hessen und Bayern stattfinden, die rechtspopulistische Alternative für Deutschland, AfD in Umfragen auf 21 Prozent der Stimmen kommt - und Innenministerin Nancy Faeser selbst Wahlkampf in Hessen führt, wo sie Ministerpräsidentin werden will.
Viele Angehörige krimineller Banden haben deutsche Staatsbürgerschaft
Zur Zeit macht Bundesinnenministerin Nancy Faeser Schlagzeilen, weil sie offensichtlich die Abschiebung von Angehörigen krimineller Organisationen plant, auch wenn diese kein Verbrechen begangen haben. Das Vorhaben geht aus einem Anfang August veröffentlichten Diskussionsentwurf hervor. Auf Seite 18 des 35-seitigen Dokuments halten die Autoren fest: "Bislang konnte für Angehörige der Organisierten Kriminalität ein Ausweisungsinteresse nur bei Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung (…) festgestellt werden." Das soll jetzt anders werden, analog zu Mitgliedern terroristischer Vereinigungen.
Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Maximilian Kall, erklärte am Montag: Sollte der Vorschlag Wirklichkeit werden, wäre künftig eine Ausweisung bereits dann möglich, "wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass jemand Teil einer kriminellen Vereinigung war oder ist". Mit Blick auf organisierte Kriminalität sagte der Sprecher, dass bei jedem einzelnen Familienmitglied, das entsprechend der neuen Regelung abgeschoben würde, ein Bezug zu kriminellen Aktivitäten vorhanden sein müsse. Weil der Abschiebeplan aber heftige Kritik ausgelöst hatte, stellte Kall klar: "Eine Familienzugehörigkeit ist keine kriminelle Aktivität."
Auch die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung müsse erst einmal ermittelt werden, betont Dirk Peglow im DW-Interview. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter fordert deshalb mehr Ermittler anstelle von vereinfachten Abschiebungen. Peglow weist darauf hin, dass Abschiebungen an sich immer mit hohen Hemmnissen verbunden seien, sogar bei verurteilten Straftätern. Nach Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) hat zudem ein knappes Drittel der Angehörigen krimineller Banden die deutsche Staatsbürgerschaft, womit eine Abschiebung ohnehin ausfällt.
Nicht Großfamilien sind kriminell, sondern "Sub-sub-Clans"
In einer Studie für den Migrationsdienst Integration vom Januar 2023 widerspricht auch der Politikwissenschaftler Mahmoud Jabala dem weit verbreiteten Bild der "kriminellen Großfamilien". Nach sieben Jahren Feldforschung ist Jabala sich sicher: Kriminalität findet nicht innerhalb der Großfamilien insgesamt statt, sondern lediglich innerhalb von "Sub-Sub-Clans".
Auf dieser Ebene gebe es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und teilweise auch zentrale Führungspersonen. Nur wenige Angehörige der Großfamilien seien kriminell. Die aber erhielten nicht nur überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik; oft suchten sie diese auch aktiv.
So wie zum Beispiel Mahmoud Al-Zein. Das Oberhaupt eines bekannten arabischen Clans veröffentlichte 2020 eine Autobiographie unter dem Titel "Der Pate von Berlin". Darin geht es viel um Ehre, Respekt, die eigenen Regeln und deren Durchsetzung. Die meisten Angehörigen der Großfamilien aber kritisierten die Kriminalität, sagt Jabala. Sie litten vielmehr unter gesellschaftlicher Diskriminierung. Denn sie würden für das Fehlverhalten der berühmt-berüchtigten Namensvettern mitverantwortlich gemacht.
Was steckt hinter dem Begriff "Clankriminalität"?
Das BKA erhebt seit 2018 gezielt Daten zur sogenannten "Clankriminalität", die im jährlichen Bundeslagebild Organisierte Kriminalität nachzulesen sind. Für das BKA ist ein Clan "eine informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist". Kennzeichnend seien strenge hierarchische Strukturen, ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl und ein gemeinsames Normen- und Werteverständnis. Wenn die Clanzugehörigkeit "eine verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung der Tat hindernde Komponente darstellt", spricht das BKA von "Clankriminalität".
Das Bundeskriminalamt unterscheidet die Herkunft der Großfamilien. Auf die meisten Verfahren in Sachen Organisierter Kriminalität kommen sogenannte Mhallamiye-Kurden aus dem Südosten der Türkei und Libanon. Gefolgt von türkeistämmigen und arabischstämmigen Gruppen sowie solchen, die vom Westbalkan oder aus den Maghreb-Staaten stammen.
Die kriminellen Großfamilienmitglieder agieren dabei nicht in ganz Deutschland, sondern konzentrieren sich auf regionale Schwerpunkte. Über zwei Drittel aller Ermittlungen erfolgten in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und Berlin.
Körperverletzung, Tumulte, Einsatz von Waffen
Der nordrhein-westfälische "Lagebericht Clankriminalität" 2022 führt aus, dass mit 28 Prozent ein knappes Drittel der Straftaten "Roheitsdelikte" seien - sprich: Körperverletzung. Laut Lagebericht werde Gewalt "oftmals als legitimes Mittel der Konfliktlösung angesehen, im Gegenzug dazu stellen Toleranz und Kompromissbereitschaft, nach Auffassung der kriminellen Clanmitglieder, eher Zeichen von Schwäche dar". Die Rede ist von einem "erheblichen Gefahrenpotenzial, zum Beispiel durch den Einsatz von Waffen und Schlagwerkzeugen". Außerdem genügten bisweilen "nichtige Anlässe und als ehrverletzend empfundene Handlungen" als Anlässe für "tumultartige Auseinandersetzungen".
Tumulte und organisierte Kriminalität? Die wirklich gefährliche organisierte Kriminalität finde im Verborgenen statt, im Stillen, und meide das Licht der Öffentlichkeit, sagt Thomas Müller im DW-Interview. Der studierte Kriminologe hat sieben Jahre lang in Bremen gegen die Organisierte Kriminalität ermittelt, war später zehn Jahre Integrationsbeauftragter der Bremer Polizei. Der Kampf gegen die sogenannte "Clankriminalität" lasse sich politisch gut ausschlachten, hat Müller beobachtet. Und bedauert zugleich die "Kollateralschäden" des Vorgehens gegen diese Kriminalitätsform. Das richte großen Schaden an bei Menschen, die aus einer ähnlichen Community kommen oder einen ähnlichen Namen tragen, sagt Kriminologe Müller.
Dieser Artikel wurde am 8.8.2023 überarbeitet.