"Für unsere Nummer 11"
15. Juni 2014Tumbaco, ein Vorort von Quito, Trainingszentrum des 13-maligen ecuadorianischen Meisters El Nacional. Die U18 ist auf dem Platz, Orlando Narvaez gibt lautstarke Kommandos. Der 55-Jährige arbeitet seit über 30 Jahren als Jugendtrainer für einen der größten Fußballvereine des Landes, bei dem nur Ecuadorianer spielen dürfen. Narvaéz erinnert sich noch wie heute, als der kleine Cristian Benitez mit zehn Jahren vor ihm stand: "Ich sagte zu ihm, dass ich ihn auch Chucho nennen werde, wie seinen Vater, der in Ecuador Torschützenkönig war, und er sagte mir, klasse, Trainer, das gefällt mir. Und ich sagte ihm, aber Dein Vater war Torjäger. Daraufhin meinte er, Sie werden sehen, ich werde noch mehr Tore schießen als mein Vater und im Ausland spielen!"
Für Narvaez war schon frühzeitig klar, dass der kleine "Chucho" das Zeug dazu hatte, später ein ganz Großer zu werden. Benitez war schnell, ehrgeizig und hatte diesen besonderen Zug zum Tor. "Er war in Tore verliebt", sagt Narvaez, und tatsächlich traf Benitez in allen Jugendmannschaften von El Nacional nach Belieben, debütierte als Profi in der ersten Liga, um dann den Klub 2005 und 2006 zum Titel zu schießen. Und "Chucho" machte sein Versprechen wahr: Er ging ins Ausland, zu Santa Laguna nach Mexiko, wo er 2008 zum besten Spieler der Liga gewählt wurde.
Narvaez verfolgte die Karriere seines früheren Schützlings mit großem Stolz: "Chucho hatte es geschafft und er hatte es alles ganz alleine hinbekommen. Und dabei hat er nie seine Wurzeln vergessen. Jedesmal wenn er in Ecuador war, hat sich Chucho die Zeit genommen, um mit den Jugendspielern von El Nacional zu sprechen und ihnen Tipps zu geben."
Mysteriöser Tod
Am 29.Juli 2013 brach auch für Orlando Narvaez eine Welt zusammen. Er war auf dem Weg zum Training, als die Nachricht von Chuchos Tod im frühen Morgengrauen im Radio bekannt gegeben wurde: Benitez, der im Juli für zwölf Millionen Euro von Mexiko zum katarischen Erstligisten Al-Jaish gewechselt war, hatte in seiner neuen Heimat über starke Unterleibsschmerzen geklagt und war kurze Zeit später im Krankenhaus an einem Herzstillstand gestorben. "Ich kann das bis heute nicht begreifen", sagt Narvaez, "Chucho war in einem Top-Zustand und gerade in Mexiko Meister geworden. Keine Ahnung, ob es ein Arztfehler war. Ich bin so unendlich traurig."
Nicht nur der Mensch Cristian Benitez, immer fröhlich, immer optimistisch und äußerst bodenständig, wird Ecuador fehlen, sondern auch der Spieler, ist sich Orlando Narvaez sicher: "Chucho hat die Rolle der hängenden Spitze perfektioniert. Er hat dabei drei Viertel des Platzes beackert, kam mal über links, mal über rechts und mal durch die Mitte und war dabei physisch enorm stark. Bis heute hat Nationaltrainer Reinaldo Rueda niemanden gefunden, der Chucho auch nur annähernd ersetzen kann."
Fehlende WM-Erfahrung und physische Stärke
Nur wenige Kilometer vom Trainingszentrum von El Nacional entfernt, einen kurzen Anstieg auf das 2850 Meter hoch gelegene Quito, bereitet sich die Nationalmannschaft Ecuadors auf ihre dritte WM-Teilnahme nach Südkorea 2002 und Deutschland 2006 vor. Das große Ziel: das Erreichen des Achtelfinals, was angesichts der Gegner in der Gruppe E - Frankreich, Schweiz und Honduras - kein unmögliches Unterfangen ist. Doch der kolumbianische Trainer Reinaldo Rueda verweist auf die fehlende Erfahrung seines Teams und schraubt die Erwartungen herunter: "Alle drei Gruppengegner waren bei der letzten Weltmeisterschaft in Südafrika dabei und verfügen über wesentlich mehr WM-Erfahrung als wir. Bei uns haben nur drei Spieler jemals eine Weltmeisterschaft gespielt: Guagua, Castillo und Antonio Valencia, 2006 in Deutschland. Für die anderen Spieler ist es absolutes Neuland."
Apropos Deutschland: Rueda studierte Anfang der 90er Jahre an der Sporthochschule in Köln und machte später in Hennef seine B- und A-Lizenz, zusammen mit Armin Reutershahn, Werner Lorant und Frank Pagelsdorf. Noch immer hegt der 57-jährige eine große Zuneigung für Deutschland, das Team von Joachim Löw ist für Rueda neben Brasilien der Favorit auf den Titel: "Deutschland erntet jetzt die Früchte seiner hervorragenden Jugendarbeit, die vor über zehn Jahren initiiert wurde. Das sind Modelle, die wir hier in Lateinamerika einführen müssen, aber das dauert natürlich seine Zeit."
Zeit, die Rueda fast nicht gehabt hätte. Nach dem frühen Ausscheiden bei der Copa America 2011 in Argentinien stand der Kolumbianer heftig in der Kritik und kurz vor der Entlassung, führte dann aber Ecuador bis auf Rang Zehn der FIFA-Weltrangliste und machte kurze Zeit später die WM-Qualifikation perfekt: als Vierter der Südamerika-Gruppe, auch weil die Mannschaft um ihren Ausnahmespieler Antonio Valencia von Manchester United sieben der acht Heimspiele gewann. In der Höhenluft von Quito ging sogar den WM-Teilnehmern Chile, Uruguay und Kolumbien buchstäblich die Puste aus. "Wir gehören physisch sicherlich zu den stärksten Mannschaften in Brasilien" streicht Rueda die Vorzüge seines Teams heraus, "außerdem verfügen wir über sehr schnelle Spieler und spielen taktisch im 4-4-2 sehr geordnet. Aber unser größtes Plus ist sicherlich der große Zusammenhalt im Team."
Der Vermittler und Anwalt "Chucho" Benitez
Und dieser ist durch den Tod des in der Mannschaft äußerst beliebten "Chucho" Benitez noch gewachsen. Fast alle Spieler nahmen den Weg von ihren Klubs in Russland, Europa oder Saudi-Arabien auf sich, um sich bei der Trauerfeier in Quito persönlich von ihrem Mannschaftskollegen zu verabschieden. Viele brachen noch Wochen und Monate später bei den Video-Analysen, in denen Benitez auftauchte, in Tränen aus. "Chucho" fehlt – auch ein knappes Jahr nach seinem Tod.
"Im Team war er immer eine Art Vermittler. Jedes Mal wenn er bemerkte, dass ich sehr nervös oder aufgeregt war, hat er mich beruhigt, damit ich nicht eine Entscheidung bezüglich seiner Mitspieler treffe, die ich später mal bereuen würde" erinnert sich Reinaldo Rueda. "Es gab viele Situationen, in denen ich angespannt war, zum Beispiel einmal bei einem Flug zu einem Auswärtsspiel, und Chucho ging mit mir zum Bad und beruhigte mich, und sagte, er sei verantwortlich für die Mannschaft und diese wolle die Sache gut machen. Er wäre ein sehr guter Anwalt gewesen, weil er unheimlich konziliant war."
Und so spielt Ecuador in Brasilien auch für seine frühere "11", die Trikotnummer, die zumindest in Freundschaftsspielen nicht mehr vergeben werden soll. "Ich werde auch seinen Humor vermissen" sagt Rueda traurig, "Chucho hat sich immer einen Spaß daraus gemacht, meinen kolumbianischen Akzent nachzumachen. Er ist immer präsent bei uns, in unseren Gedanken und in unseren Herzen!"