Krim-Brücke: FSB veröffentlicht neue "bulgarische Spur"
13. Oktober 2022Was hat Bulgarien mit der Sprengladung zu tun, die am 8.10.2022 in einem Lastwagen auf der Brücke zwischen dem russischen Festland und der russisch besetzen ukrainischen Halbinsel Krim explodierte? Kam der LKW aus Bulgarien, wie Moskau am 11.10. behauptete? Oder wurde "nur" der Sprengsatz durch Bulgarien transportiert, wie der russische Geheimdienst FSB am 12.10. in einer detaillierten schriftlichen Erklärung behauptet - und damit früheren Angaben aus Moskau widerspricht.
"Der Sprengsatz war in Rollen von Polyethylen-Baufolie auf 22 Paletten mit einem Gesamtgewicht von 22770 kg versteckt und wurde Anfang August dieses Jahres im Rahmen des Vertrags Nr. 02/08/2022 zwischen "Translogistic UA" (Kiew) und "Baltex Capital S.A." (Ruse) vom Seehafen Odessa in die bulgarische Stadt Ruse geschickt." Von dort sei der Transport in den georgischen Hafen Poti erfolgt, so der FSB weiter.
Ganz offenbar versucht Moskau, Bulgarien in den Anschlag auf die Brücke über die Straße von Kertsch zu verwickeln. Denn in dem EU- und NATO-Mitgliedsland kochen die Emotionen schnell hoch, wenn von "bulgarischen Spuren" die Rede ist - erinnert der Begriff doch an die in den 1980er Jahren von der CIA gestreuten Desinformation, der bulgarische und sowjetische Geheimdienst hätten das Attentat auf Papst Johannes Paul II. 1981 organisiert. Ebenso wie die damalige bulgarische Spur falsch war, scheint auch die Verwicklung Bulgariens in die Explosion auf der Krim-Brücke vor allem eine Propaganda-Aktion zu sein. Denn die russischen Angaben strotzen von Unklarheiten.
Ein LKW, den es so nicht gab
Am Sonntagabend (9.10.2022) sprachen Wladimir Putin und der Vorsitzende des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, Aleskandr Bastrykin, noch davon, der LKW mit der Bombe sei aus Bulgarien losgefahren. Eine eilig anberaumte Prüfung der bulgarischen Behörden, darunter der Inlandsgeheimdienst DANS, kam jedoch zu einem anderen Schluss. Den gab Übergangs-Premier Galap Donev am Nachmittag des 11.10. bekannt:Der von Russland genannte LKW war nie in Bulgarien gewesen.
Darüber hinaus verglich das ukrainische Nachrichtenportal "tryha.net" vom FSB veröffentlichte Röntgenbilder des angeblichen LKWs mit Videoaufnahmen, die dasselbe Fahrzeug zeigen sollen - wobei jedoch sowohl ein Ersatzrad als eine gesamte Achse fehlen. Auch dem FSB scheinen diese Ungereimtheiten mittlerweile aufgefallen zu sein: In seiner neusten Mitteilung zum Thema ist von einem LKW keine Rede mehr.
Eine Route ohne Sinn
Odessa (Ukraine) - Ruse an der Donau (Bulgarien), - Poti (Georgien) - Armenien: Das war laut FSB die Reiseroute des in Polyethylen-Baufolie versteckten Sprengsatzes. Tihomir Bezlov, Sicherheitsexperte des in der bulgarischen Hauptstadt Sofia ansässigen Think Tanks Center for the Study of Democracy, hat daran große Zweifel. Der DW sagt er: "Es ist vollkommen unklar, wie die angebliche Bombe von Odessa nach Ruse, und von dort weiter über Varna nach Georgien gelangt sein sollte."
Dagegen spricht etwa, dass die Donau zwischen Bulgarien und Rumänien im August 2022 historisches Niedrigwasser führte. Selbst Schiffe mit ukrainischem Getreide für den Export seien daher nicht über Ruse gefahren. "Und wenn der FSB meint, die Bombe sei auf dem Landweg von Odessa nach Ruse gekommen, wieso wird dann Rumänien nicht erwähnt?", fügt Sicherheitsexperte Bezlov hinzu. Darüber hinaus mache der FSB keine Angaben darüber, wie die Ladung von Ruse nach Varna, von wo die Fähren nach Georgien fahren, transportiert worden sein soll. Eine Nachfrage der DW ergab, dass die Fährverbindung von Bulgarien nach ins georgische Poti bis Juni 2022 eingestellt war und seitdem nur unregelmäßige Fahrten auf dieser Strecke durchgeführt werden.
Wie transportiert man zwei Tonnen Sprengstoff durch sechs Länder?
Über 22 Tonnen soll die Ladung des LKW laut FSB gewogen haben. Wie viel davon war Sprengstoff? Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations, meint: "Wenn die Bilder, die Moskau von der Explosion veröffentlicht hat, stimmen, dann muss es eine gewaltige Sprengladung gewesen sein." Auf den Aufnahmen sehe man Schockwellen, die die Brücke in ihrem Fundament erschütterten. "Dazu braucht man sehr viel Armeesprengstoff, nicht irgendwas selbst Gemischtes. Da bewegen wir uns im Bereich von ca. zwei Tonnen."
Folgt man den Angaben des FSB, müssten also rund zwei Tonnen Armeesprengstoff aus der Ukraine erst in die EU und von dort weiter nach Georgien, Armenien, Nord-Ossetien und Russland bewegt worden sein - ohne, dass Röntgenaufnahmen, Zoll oder Spürhunde irgendwo Alarm schlugen. Nach Gressels Einschätzung ist das unmöglich: "Es ist absolut unplausibel, dass so viel Sprengstoff über so viele Grenzen geschickt würde, das Risiko wäre viel zu groß. Das ist Blödsinn!"
Was will Moskau von Bulgarien?
Bei so vielen Ungereimtheiten fragt man sich, warum Moskau an der Schuldzuweisung an Bulgarien festhält. "Russland braucht unbedingt einen Deserteur aus der NATO, und Bulgarien ist eines der schwächsten Glieder der Allianz", erklärt Tihomir Bezlov. Es gäbe starke pro-russische Kräfte - und auch Präsident Rumen Radew zeige klare Sympathien für Russland.
"Außerdem geht es angesichts der komplizierten innenpolitischen Lage in Bulgarien darum, Angst zu verbreiten", meint Sicherheitsexperte Bezlov. "Seit Monaten wiederholen die prorussischen Kräfte die Warnung, Bulgarien könnte in den Krieg in der Ukraine verwickelt werden und solle die Ukraine deshalb nicht unterstützen. Mit dieser Propagandaaktion bekommen sie neue Nahrung." Dies scheint seit den Wahlen vom Oktober 2022 umso brisanter, da sich erstmals seit Beginn der russischen Invasion im bulgarischen Parlament eine Mehrheit für Waffenlieferungen an die Ukraine zusammenfinden könnte.
Fragen an Sofia?
Derweil muss sich auch die bulgarische Übergangsregierung einige Fragen gefallen lassen. Denn Premierminister Donev erklärte am 11.10.2022 auch, dass er nicht zulassen werde, dass bulgarisches Territorium für "terroristische Handlungen" benutzt werde. Damit machte er sich zumindest teilweise die Sprachregelung des Kremls zu eigen, der von einem "Terrorakt gegen zivile Infrastruktur" spricht. Sichterheitsexperte Bezlov hält dagegen: "Die Kertsch-Brücke war ein legitimes militärisches Ziel. Zum einen befindet sie sich auf besetztem ukrainischem Territorium und zum anderen werden hier russische Truppen und Militärgerät zwischen den Fronten verschoben."
Unklar bleibt zudem, woher der bulgarische Inlandsgeheimdienst überhaupt wusste, nach welchem LKW und welcher Warensendung er nach den Vorwürfen aus Moskau suchen sollte. Hatte DANS diese Informationen direkt vom FSB? Oder der russischen Botschaft in Sofia? Auf eine schriftliche Nachfrage der DW reagierten bis zum Erscheinen dieses Beitrags weder die bulgarische Regierung noch der Geheimdienst.