Ex-Residenz von Hitler-Attentäter: Verfall oder Museum?
21. August 2023Das Herrenhaus der deutschen Familie von Lehndorff in Steinort (polnisch: Sztynort) gehörte jahrhundertelang zu den malerischsten Adelsresidenzen in Ostpreußen. Die barocke Schloss- und Parkanlage liegt im Norden der Großen Masurischen Seenplatte auf einer Halbinsel, die von drei Seen umgeben ist. Die Journalistin und spätere Herausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, Marion Gräfin Dönhoff, die aus Ostpreußen stammte und mit den von Lehndorffs verwandt war, nannte diese idyllische Gegend einen "magischen Ort".
Der letzte deutsche Besitzer, Heinrich von Lehndorff, selbst Offizier bei der Wehrmacht, schloss sich 1941 der Verschwörung gegen Hitler an. Die Situation des jungen Grafen wurde dadurch dramatisch verkompliziert, dass sich nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Schloss Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop samt seinen Beamten und Gestapo-Sicherheitsleuten einquartiert hatte. Ribbentrop nutzte die günstige Lage des Ortes - Steinort lag nur 14 Kilometer von Hitlers Hauptquartier Wolfsschanze entfernt. So lebten drei Jahre lang im Schloss Tür an Tür einer der engsten Vertrauten von Hitler und einer, der den Diktator tot sehen wollte.
Als SS-Leute von Lehndorff am 21. Juli 1944 abholen wollten, sprang er aus dem Fenster des Schlosses in den Park und entkam zunächst seinen Verfolgern, wurde aber später gefasst und bereits im September im Berliner Gefängnis Plötzensee hingerichtet.
Jahrzehntelang erinnerte nichts an diese dramatischen Ereignisse. Im realsozialistischen Polen diente das Gebäude erst als Quartier des sowjetischen Militärkommandos, dann als Verwaltungssitz einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Erst seit 2009 wird mit einem Stein vor dem Schloss der Ereignisse gedacht.
Imposante Vergangenheit und triste Gegenwart
Wer heute einen Abstecher vom nur wenige hundert Meter entfernten Jachthafen am Steinorter See zum Schloss wagt, kann die alte Pracht der Residenz und ihre historische Bedeutung nur erahnen. Die Fenster sind zugemauert oder mit Brettern vernagelt und schwarzer Folie verhangen. Der Putz bröckelt von der Fassade ab, an der verlassene Baugerüste lehnen. Der einst so adrette Park ist verwildert. Nur eine Storchenfamilie hat sich von alldem nicht abschrecken lassen und nistet auf dem Schlossdach.
Doch bei genauerem Hinschauen entdecken aufmerksame Besucher Spuren von Menschen, denen das Schicksal dieses geschichtsträchtigen Ortes nicht egal ist - etwa einen Infopunkt im Westflügel des Schlosses. Ohne diese Menschen wäre der Ort schon längst komplett verfallen.
Seit Anfang der 1990er Jahre kämpft beispielsweise die deutsche Historikerin Bettina Bouresh um den Wiederaufbau des Schlosses. Sie wuchs im Ruhrgebiet mit Geschichten aus Ostpreußen auf, die ihr die aus Allenstein (Olsztyn) stammende Mutter erzählte.
Supermodel wirbt für Steinort
Als der Eiserne Vorhang fiel, reiste Bouresh nach Masuren und verliebte sich in Steinort. "Der Ort hat nach mir gegriffen und mich nie wieder losgelassen. Er ist mein Bezugspunkt in der Welt", sagt sie im Gespräch mit der DW.
Die Historikerin gründete den Förderkreis Steinort und später die Lehndorff-Gesellschaft, um das Interesse in Deutschland für den vergessenen Ort zu wecken und Spenden zu sammeln. Ihr gelang es auch, Kontakt zu Mitgliedern der Familie Lehndorff zu knüpfen. So war Vera Gräfin von Lehndorff, eine von vier Töchtern Heinrichs, 2009 in Steinort bei der Einweihung des Gedenksteins zum 100. Geburtstag ihres Vaters zugegen. Bekannt als erstes deutsche Supermodel "Veruschka", warb sie für den Erhalt des Schlosses.
Bouresh schaffte es zudem, für die Idee der Sanierung des Schlosses polnische Historiker und Architekten sowie NGOs zu gewinnen. Der Wendepunkt kam, so schien es, mit der Übernahme der Anlage durch die Polnisch-Deutsche Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz (PNF) im Jahr 2009.
Kampf gegen die Zeit und ums Geld
Zusammen mit ihrer deutschen Schwesterstiftung in Görlitz gelang der PNF die Notsicherung der Bausubstanz. Mit privaten Spenden aus Deutschland und einer Zuwendung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie des polnischen Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe konnte das Gebäude stabilisiert und das Dach abgedichtet werden.
Seitdem dauert der Kampf gegen die Zeit und um das Geld für weitere Sanierungen an. Doch genauso wichtig wie der Erhalt ist die Frage: Was soll aus der Anlage werden?
Auf Initiative der deutschen Generalkonsulin in Danzig, Cornelia Pieper, wurde im vergangenen Jahr eine deutsch-polnische Expertengruppe mit der Aufgabe betraut, eine Nutzungskonzeption für Steinort zu erarbeiten.
Neues Konzept: Ausstellung und Bildungsstätte
Die Vorsitzenden der Expertengruppe, die Historiker Dieter Bingen aus Deutschland und Robert Traba aus Polen, präsentierten Mitte August 2023 vor Ort die Ergebnisse. Demnach sollen in dem barocken Bau eine Ausstellung und Dokumentation über die Geschichte des Schlosses, der Familie Lehndorff sowie über die polnische Nachkriegsgeschichte dieses Ortes untergebracht werden. Auch Heinrich von Lehndorff soll gewürdigt werden, wobei, wie Bingen betonte, in Steinort "keine deutsche Gedenkstätte entstehen soll".
Es gehe um "kulturelle Nachfolge", betonte Traba. "Aus der Konfrontation zwischen dem vorgefundenen deutschen Erbe und der von den polnischen Einwohnern mitgebrachten Tradition entsteht eine neue Qualität", erläuterte der Historiker.
30 Millionen Euro gesucht
Beide Historiker betonten, dass sich die geopolitische Lage Steinorts durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine geändert habe. Aus der Peripherie ist Steinort mit seinen gerade einmal 20 Kilometern Luftlinie von der russischen Exklave Kaliningrad in die europäische Mitte gerückt. Daher soll hier neben den Ausstellungen auch eine Akademie als Forum für europäischen Dialog entstehen, die Academia Masuria. An diesem "Labor der Zivilgesellschaft" könnten außer Deutschen und Polen auch Ukrainer und Belarussen teilnehmen.
Die Kosten der Umsetzung dieses Vorhabens werden auf 30 Millionen Euro geschätzt. Woher das Geld kommen soll, ist aber noch unklar. Generalkonsulin Pieper verliert nicht den Mut. Im Herbst will sie in Berlin interessierte Abgeordnete einladen, um sie für die Idee der Schloss-Sanierung zu begeistern.
Viel Zeit für eine echte Wende beim Umgang mit diesem historischen Denkmal bleibt nicht - der Gutshof zerfällt zusehends. Im kommenden Jahr steht bereits der 80. Jahrestag des Hitler-Attentats an.
Doch auch Historikerin Bouresh will nicht aufgeben. "Wir haben zu viel Herz und Geld investiert", sagt sie. "Es gibt jetzt kein Zurück."