Rabbiner zum Ukraine-Konflikt: "Es geht um Vernichtung"
31. Mai 2022Bald nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat die Europäische Rabbinerkonferenz den polnischen Oberrabbiner Michael Schudrich zum Koordinator ihrer Flüchtlingshilfe ernannt. Im Interview mit der Deutschen Welle wirft der 56-Jährige Russland vor, die Ukraine "vernichten" zu wollen.
DW: Rabbiner Schudrich, seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine engagieren Sie und ihre Gemeinden sich für Flüchtlinge. Was bewegt Sie? Gibt es eine Szene, die bleibt?
Schudrich: Das hat jetzt gar nicht mit all den Nöten und all dem Schrecken zu tun. Immer wenn ich an der ukrainischen Grenze half, hatte ich einen Beutel mit Lollipops dabei. Es sind nur einfache Lutscher. Aber ich wollte den Kindern, die seit Tagen unterwegs waren und nicht geschlafen hatten, die nicht mehr weinen konnten, ein kleines Zeichen geben. Und was mich unglaublich gerührt hat: Jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn ich einem Kind einen Lollipop gab, sagte die Mutter ihm: Bedanke Dich bitte! Und ich bekam ein Dankeschön. Sie haben alles verloren, sie fliehen um ihr Leben… und die Mütter wollen, dass sich ihr Kind ordentlich bedankt.
Sie koordinieren die Hilfe der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER) für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine…
Es geht um die Hilfe für jüdische Flüchtlinge, aber wir fühlen uns genauso für nichtjüdische Flüchtlinge verantwortlich. Bei uns in Polen und unserer Arbeit der jüdischen Gemeinschaft erfahre ich das häufig sehr konkret: Wenn uns jemand um Hilfe bittet, helfen wir. Die Mehrzahl derer, die sich melden und Unterstützung brauchen, ist jüdisch. Aber auch andere melden sich. Und denen helfen wir in gleicher Weise. Jetzt ist nicht die Zeit, da zu unterscheiden.
Was können Sie vor allem tun?
Es geht um so vieles. Da kommen - nach wie vor - Menschen, die kaum mehr haben als das, was in eine Tasche passt. Sie brauchen ein Quartier und ein Bett, Kleidung und Medikamente, Lebensmittel, man muss sich um psychischen und rechtlichen Beistand kümmern, die Kinder sollten irgendwie unterrichtet werden. Vielleicht brauchen Menschen einen Job.
Und so viele Menschen bei uns in Polen beteiligen sich an diesem Engagement. Das ist extrem beeindruckend. Klar, das stoppt nicht den Krieg. Aber wir können den Menschen das Nötigste bieten.
Helfen Sie auch Menschen in der Ukraine?
Ja. Nicht wir seitens der polnischen jüdischen Gemeinschaft, aber es gibt eine jüdische Hilfsorganisation, die 30.000 Menschen mit Essen versorgt, Tag für Tag. Als Gemeinden helfen wir, so wir können, jenen, die kommen und die fast nichts mehr haben.
Derzeit treffen Sie sich in München mit Rabbinern aus ganz Europa. Sind alle jüdischen Gemeinschaften des Kontinents in der Hilfe engagiert?
Nicht alle, aber viele, sehr viele. Und klar ist: Wir sind da alle beieinander. Alle wollen, dass den Flüchtlingen geholfen wird. Flüchtlingshilfe ist Flüchtlingshilfe, das ist kein politisches Statement.
Und äußern sich die Rabbiner in politischen Statements?
Einige von uns bewerten den russischen Angriff auch öffentlich. Ich sage offen: Das ist eine Aggression, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Es geht ja nicht einfach um Krieg und Gewalt, es geht um Vernichtung, um Verbrechen. Sie zeigen die Immoralität Putins. Nicht alle Rabbiner sagen das laut. Aber es gibt in dieser Frage gewiss keine Meinungsverschiedenheit, keine Fraktionen zwischen uns.
Es geht um die Vernichtung der Ukraine?
Das ist ja letztlich kein Krieg – im Krieg richten sich Angriffe gegen militärische Einrichtungen. Ich vergleiche das Vorgehen Russlands mit dem der (islamistischen Palästinenserorganisation, d. Red.) Hamas. Die Hamas sagt bei Anschlägen, sie töte Soldaten, sie sei im Krieg. Aber sie ermorden sehr bewusst Kinder, Frauen, Zivilisten. All das ist kein Krieg, sondern das sind Massaker, das ist nur unmoralisch. Aber letztlich zerstört die Hamas ihre eigene Gesellschaft, die palästinensische Gesellschaft. Die Israelis werden überleben.
Wussten Sie mit dem 24. Februar, dem Beginn der Invasion, wie dramatisch es wird?
Eigentlich ja. Mit einem konkreten Moment. Sie wissen: Ich bin orthodoxer Rabbiner. Uns Juden sind der Schabbat und die Schabbatruhe heilig. Kurz vor Beginn des ersten Schabbats nach Kriegsbeginn rief mich der Oberrabbiner der Ukraine an, auch ein Orthodoxer, ein alter Freund, und sagte: "Mike, bitte schalte Dein Smartphone nicht ab am Schabbat. Mag sein, dass es dramatisch wird…" Ich habe mein Smartphone noch nie eingeschaltet gelassen bis zu diesem Schabbat. Mit diesem Moment war mir klar: Jetzt ist es ernst.
In der Ukraine lebten vor dem Krieg tausende jüdische Überlebende der Schoah…
Deutschland und Israel haben sich frühzeitig in bewundernswerter Weise um diese alten Menschen gekümmert, die nun zum zweiten Mal existenziell bedroht sind. Diese Länder nehmen auch die Schoah-Überlebenden auf, die fliehen konnten und sonst kein Ziel haben.
Und es sind auch besonders engagierte Helfer, die man da braucht. Vor einigen Wochen hatte ich mit der Rettung durch die französische Aktion "Sauveteurs sans frontières" zu tun. Die helfen sonst bei Tsunamis oder Erdbeben und riskieren selbst ihr Leben. Nun hatten sie ein altes Ehepaar, 92 und 93 Jahre alt, mit einem Krankenwagen über die Grenze nach Polen gebracht. Zwei reizende Menschen. Die beiden wollten nach Israel. Aber dann merkte man: Die Pässe der beiden sind abgelaufen. Und man kann zwar mit einem nicht mehr gültigen Pass aus der Ukraine einreisen, aber nicht offiziell aus Polen ausreisen. Da habe ich viele Räder in Bewegung gesetzt, bis wir binnen zwei Tagen gültige Pässe hatten. Aber es sind nicht nur dramatische Schicksale bei alten Menschen. Wir haben uns um die Weiterreise einer jungen Frau gekümmert. Sie war im achten Monat schwanger, und sie wusste, dass ihr Mann schwer verwundet in der Ukraine blieb. Wochen später bekamen wir ein Foto aus Israel, die Mutter mit dem Neugeborenen. Es sind viele Geschichten, die man nicht vergessen kann.
Sind noch Schoah-Überlebende in der Ukraine, im Osten der Ukraine, in Charkiw oder Odessa?
Ja, davon muss man ausgehen. Nicht jeder wollte seine Wohnung, sein Häuschen verlassen. Und nicht alle sind transportfähig.
Rabbiner Michael Schudrich (56) ist seit 2004 Oberrabbiner von Polen. Wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine bestimmte ihn die Europäische Rabbinerkonferenz (CER) zum Koordinator für die Rettungs- und Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge aus der Ukraine.
Das Interview führte Christoph Strack.