Zweifel an Schengen
12. Juni 2015Reisen von Lissabon nach Athen, von Palermo nach Stockholm, ohne an den vielen Grenzen ein einziges Mal kontrolliert zu werden: Das Schengen-System macht es möglich. Vor 30 Jahren kamen damals nur fünf Staaten im luxemburgischen Grenzort Schengen überein, die Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen schrittweise aufzuheben. Schengen wurde seitdem immer weiter ausgebaut - und hat sich als eine der größten und beliebtesten Errungenschaften der EU erwiesen.
Doch beliebt ist Schengen auch bei Leuten, für die diese Freiheit ursprünglich nicht gedacht war, zum Beispiel bei Migranten aus Drittstaaten. Sie betreten die EU zum Beispiel in Italien und ziehen dann - oft mit Billigung der dortigen Behörden - weiter nach Norden, zum Beispiel über Österreich nach Deutschland. Eigentlich müsste sich jeder Flüchtling in dem Land registrieren lassen, über das er in die EU einreist. Doch einmal im Schengen-Raum, hat er gute Chancen, den Kontrollen zu entgehen.
Niemand will zurück zu Autoschlangen an der Grenze
Welches Ausmaß der illegale Grenzübertritt hat, hat die bayerische Polizei während des G7-Gipfels entdeckt. Bei solchen Großereignissen darf ein EU-Mitgliedsland das Schengen-System ausnahmsweise zeitweilig aussetzen und wieder Kontrollen durchführen. Nach ihren eigenen Angaben stellte die Polizei seit dem 26. Mai mehr als 10.000 illegale Grenzübertritte fest, "doppelt so viel, wie normalerweise bundesweit in diesem Zeitraum aufgegriffen wird", so Jörg Radek von der Polizeigewerkschaft. Aber auch Drogen- und Urkundendelikte sowie Verstöße gegen das Asylrecht flogen dabei auf. Andreas Scheuer, Generalsekretär der bayerischen CSU, klagte jetzt in der "Bild"-Zeitung: "Die EU-Außengrenze ist löchrig, und unsere Nachbarn schauen weg. Wenn die EU-Verantwortlichen nicht wieder deutlich mehr Grenzkontrollen zulassen, machen sie sich selbst zu Komplizen von Schleusern, Menschenhändlern und anderen Straftätern."
Monika Hohlmeier ist Scheuers Parteifreundin - allerdings im Europaparlament. Vielleicht relativiert das den kritischen Blick. "Schengen ist ein Riesenerfolg. Kein Mensch will mehr die kilometerlangen LKW-Warteschlangen, bis man über die Grenze kann", lobt sie im DW-Gespräch. Aber Schengen sei auch "pervertiert" worden. "Schengen darf kein absolutes Verdikt der Kontrolllosigkeit sein. Schengen soll ein Raum der Sicherheit und der Freiheit sein. Momentan wird er nur als Raum der Freiheit diskutiert", so Hohlmeier.
Druck aus Frankreich, Italien und Dänemark
Die Erkenntnisse der Polizei in Bayern werfen die Frage auf, wie viele Fälle normalerweise unentdeckt bleiben. Der Druck auf Schengen nimmt zu - nicht nur in Deutschland und nicht erst seit dem G7-Gipfel. Matteo Salvini, der Chef der italienischen Rechtspartei Lega Nord, hat bereits im Mai gefordert, das grenzkontrollfreie Regime angesichts der Flüchtlingsströme und der Gefahr eingeschleuster Dschihadisten auszusetzen.
Und in Frankreich forderte Front-National-Chefin Marine Le Pen nach den Anschlägen von Paris Anfang des Jahres: "Wir müssen unsere Grenzen kontrollieren. Wir müssen die Einwanderung sofort stoppen und Schengen aussetzen, um zu überwachen, wer das Land verlässt und wer einreist." Le Pen kann sich offenbar auf einige Zustimmung unter ihren Landsleuten stützen. Ende Mai äußerten in einer Umfrage 60 Prozent der Franzosen, sie stellten Schengen infrage. Auch Nicolas Sarkozy, der frühere französische Staatspräsident und heutige Chef der konservativen Opposition, hat immer wieder eine Revision der Schengen-Regelung gefordert.
In Dänemark spielt das Thema ebenfalls eine große Rolle. Dort wird am 18. Juni ein neues Parlament gewählt. Der rechtsgerichteten und EU-kritischen Dänischen Volkspartei werden dabei deutliche Stimmengewinne auf bis zu 20 Prozent vorausgesagt. Die Volkspartei ist ebenfalls dafür, die Grenze nach Deutschland wieder regelmäßig zu überwachen, um, wie sie sagt, gegen illegale Einwanderung und Kriminalität vorzugehen. Die Volkspartei hatte bereits als Koalitionspartner in der damaligen Regierung 2011 kurzzeitig dafür gesorgt, dass dänische Zollbeamte wieder Fahrzeuge aus Deutschland kontrollierten, was zu einem Aufschrei in Berlin und Brüssel geführt hatte.
Notfalls "verabschieden sich die Staaten von der EU"
Das Schengen-System steht und fällt mit der Qualität der Kontrolle an den Außengrenzen. Vernachlässigt auch nur ein einziger Staat seine Aufgabe, haben alle anderen Schengen-Staaten die Auswirkungen zu tragen. Die Europaabgeordnete Monika Hohlmeier ist dafür, "die Außengrenzen massiv zu kontrollieren". Außerdem müsse die Kommission den Mitgliedsstaaten mehr Entscheidungsspielraum geben, wann diese die Binnengrenzen kontrollierten. Die jetzige Situation bestehe letztlich darin, "ununterbrochen Polizei und Rechtsbehörden an den notwendigen Schutzmaßnahmen zu hindern." Einmal sollten stichprobenhafte Kontrollen möglich sein, "und zwar am besten unangekündigt". Außerdem sollten die Mitgliedsstaaten vereinbaren, dass Polizeibeamte in einem bestimmten Korridor Verdächtige auch über die Grenze verfolgen dürften.
Doch "dafür würde man bei Schengen Änderungen einfügen müssen". Wenn die Kommission keine Zugeständnisse mache, glaubt Hohlmeier, "werden sich die Mitgliedsstaaten irgendwann in diesen Fragen von der Europäischen Union verabschieden" und die Dinge unter sich ausmachen. "Und das halte ich für eine ganz schlechte Entwicklung." Die CSU-Politikerin meint, man müsse, um Schengen zu retten, die Praxis von Schengen verändern. Doch sie will auch nicht den grenzkontrollfreien Personenverkehr nur unter dem Aspekt der Migration sehen. "Es wäre zu einfach, das Flüchtlingsproblem zum Problem für Schengen zu erklären. Schengen allein kann das Thema Zuwanderung nicht stoppen."
Neuer Zaun in Ungarn?
Andere dagegen gehen damit längst in die Offensive. Ungarn mit seiner rechtsnationalen Regierung liegt an der EU-Außengrenze. Um den Strom einzudämmen, will die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban das südliche Nachbarland Serbien zum "sicheren Drittland" erklären und Flüchtlingen damit das Recht nehmen, in Ungarn Asyl zu beantragen.
Das von der Kommission vorgeschlagene Quotensystem zur Verteilung von Flüchtlingen bezeichnete Orban als "Wahnsinn". Ein Regierungssprecher schloss kürzlich auch den Bau eines Stacheldrahtzauns entlang der Grenze zu Serbien nicht aus. Damit könnte Ungarn, das 1989 zum Symbol eines zerschnittenen Stacheldrahtzauns für DDR-Flüchtlinge wurde, zum Vorreiter einer neuen europäischen Abschottung werden.