Europas geteilte Fußball-Hauptstadt
23. April 201420:45 Uhr in Madrid: Im Estadio Vicente Calderón im Süden Madrids ertönt der Anpfiff zum Champions-League-Halbfinale zwischen Atlético Madrid und dem FC Chelsea. Das Stadion brodelt, die Fans fiebern dem Spiel entgegen, es geht schließlich darum, sich eine gute Ausgangsposition für das Rückspiel zu verschaffen. Atlético spielt eine großartige Saison, ist Tabellenführer der Primera Division und schickt sich nun an, nach 40 Jahren wieder in das Finale der Champions League, damals der Landesmeisterpokal, zu kommen.
Fünf Kilometer weiter nördlich im kleinen Restaurant "La Nova" merkt man davon nichts. Das Restaurant hat gar keinen Fernseher und so recht an Atléticos Erfolg interessiert ist Felipe, der Kellner, auch nicht. Er hält es eher mit dem FC Barcelona. Ob er nicht wissen will, wie das Spiel läuft? Ein Schulterzucken als Antwort und er verschwindet in der Küche, um die nächste Bestellung zu holen. Na gut, möchte man sagen, als Barça-Fan darf er desinteressiert sein. Doch ist Felipe alles andere als eine Ausnahme.
Straßen wie leer gefegt
21:12 Uhr: Noch steht es 0:0, doch die Stimmung im Vicente Calderon ist riesig. Jede Aktion der Rot-Weißen wird bejubelt, sobald ein Spieler des FC Chelsea an den Ball kommt, ertönen gellende Pfiffe. Die Straßen im Zentrum Madrids rund um den breiten Boulevard Paseo de Castellana, nicht weit vom Bernabéu-Stadion und dem Mannschaftshotel der Bayern, sind währenddessen wie leer gefegt. Einige Passanten sind auf dem Weg nach Hause, eine Reisegruppe mit Jugendlichen auf dem Weg ins Hostel.
Zwar gibt es auch hier Restaurants, Cafés und Bars, in denen zahlreiche Gäste sitzen und den Feierabend ausdehnen, doch das Spiel wird nirgendwo übertragen. Einzige Ausnahme ist eine kleine Bar in einer Seitenstraße - hier hocken drei amerikanische Rucksacktouristen im ungemütlichen und kalten Neonlicht und starren müde auf den Bildschirm, jeder von ihnen ein Bier in der Hand.
Warten auf den nächsten Clásico
Offenbar blendet ein Großteil der Madrilenen das Halbfinale in der Champions League einfach aus, bloß weil es sich nicht um das Halbfinale handelt, in dem Real Madrid mit von der Partie ist. Ohnehin scheint im spanischen Fußball nichts wichtiger zu sein, als die beiden großen Clubs, Real und der FC Barcelona. Nach dem Clásico ist schließlich vor dem Clásico. Und während Atlético sich heldenhaft gegen Mourinhos FC Chelsea schlägt, wartet der Großteil der Madrilenen auf den "Clásico europeo", den europäischen Klassiker zwischen Real und den Bayern. Stünden statt der beiden spanischen Hauptstadt-Vereine zwei deutsche Clubs im Halbfinale der Champions League, würden Kneipen und Biergärten in Deutschland wohl aus allen Nähten platzen, Fans und Journalisten einem deutschen Finale in der Königsklasse entgegenfiebern - so geschehen im vergangenen Jahr, als sich der FC Bayern und Borussia Dortmund im Halbfinale spielten.
Europäische Fußball-Hauptstadt
Damals hieß es stets, die Bundesliga sei die beste Liga der Welt. Ein Jahr später könnte das die Primera División von sich behaupten, Madrid den inoffiziellen Titel der europäischen Fußball-Hauptstadt 2014 für sich beanspruchen. Schließlich stehen mit Real und Atlético zwei Madrider Clubs im Semifinale der Königsklasse, mit dem FC Sevilla und dem FC Valencia treffen zwei weitere spanische Teams im Halbfinale der Europa League aufeinander - eine spanische Mannschaft ist also schon sicher im Endspiel. Trotzdem diskutieren Spaniens Fußballfans eher, ob Real Madrid endlich die "Decima" holt, den ersehnten zehnten Erfolg in Champions League und Landesmeisterpokal, oder ob Real oder Barcelona es noch schaffen, Tabellenführer Atlético in der spanischen Meisterschaft noch abzufangen.
21:47 Uhr zurück im Hotel: Im Vicente Calderon läuft mittlerweile die 2. Halbzeit, immer noch sind keine Tore gefallen, aber das Spiel wogt hin und her, die Zuschauer machen nach wie vor ein Spektakel aus der Partie. An der Rezeption frage ich den Portier, warum denn hier im Viertel niemand das Champions-League-Spiel anschaut. Er antwortet mir erstaunt und mit großen Augen: "Aber Real spielt doch erst morgen!"