1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Europa wird schon helfen!

Serhij Zhadan13. Mai 2013

Ist der Westen für demokratische Fehlentwicklungen anderer Länder verantwortlich? Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan ärgert sich über die Passivität seiner Landsleute.

https://p.dw.com/p/18CEK
der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhandan @privat
Bild: privat

Die Bürger der sogenannten "demokratischen Welt" können sich kaum vorstellen, wie viele Hoffnungen die Menschen aus Ländern wie der Ukraine in sie setzen. Sie leben in ihren europäischen Demokratien und haben keine Ahnung, dass sie im fernen und unverständlichen Osten aufmerksam beobachtet werden. Dass die Menschen dort an sie glauben, über sie spekulieren - und sich auch von ihnen enttäuscht fühlen. Für sie passiert das alles irgendwo an einem weit entfernten Ort, wo die modernen Eisenbahngleise abrupt enden und sich der Zustand der Straßen drastisch verschlechtert.

Woher sollen sie es auch wissen, die Einwohner von Berlin, Wien oder Zürich, die friedlich in ihrer Schengen-Zone leben? Woher sollten sie wissen, dass gleichzeitig 40 Millionen Ukrainer auf eine bessere Zukunft hoffen - auch mit Mitteln der Steuerzahler aus dem vereinigten Europa.

Europa erscheint uns als Paradies auf Erden

Das Wort Europa hat im Ukrainischen längst eine sprichwörtliche Bedeutung bekommen. Ukrainer bezeichnen damit viele Charakteristiken. Es funktioniert gleichzeitig als Metapher und als Marke. Europa bedeutet hochwertige Autos (sollten sie auch mittlerweile in China hergestellt werden). Europa bedeutet gesunde Nahrungsmittel (sollten sie auch dicht an der ukrainisch-polnischen Grenze hergestellt werden). Europa bedeutet hohe Löhne und einen funktionierenden Rechtsstaat, Toleranz und Multikulturalismus, Freiheit, Liberalismus und den Kampf gegen die alten kommunistischen Regime.

Ein gewisser Teil meiner Mitbürger ist aufrichtig davon überzeugt, jenseits der Grenze zu Ungarn habe die Luft eine andere Zusammensetzung und Probleme lösten sich auf eine ganz simple Art und Weise – meistens, indem sie gar nicht erst entstehen. Für die freiheitlich veranlagten Ukrainer ist Europa das "Gelobte Land". Sie sehen sich als Mitglieder einer großen Familie der Brudervölker, mit denen sie ihre Werte und Absichten teilen – und von denen sie mit großer Ungeduld erwartet werden. Für einen anderen Teil der Ukrainer, die sich nach den alten Sowjetzeiten sehnen, bleibt Europa weiterhin das Kernstück des Übels und der zivilisatorischen Fäulnis.

Auf jeden Fall ist Europa in der Ukraine stärker präsent als es ahnt - auch in der großen Politik. Alle Politiker reden über Europa, wenn auch unterschiedlich. Die Machthaber haben Angst. Und sie genieren sich auch gar nicht, dies zur Schau zu stellen. Sie wissen: Sie alle hängen von Europa ab, denn woher kommen wohl die meisten der immer neuen Kredite? Die Opposition setzt große Hoffnungen auf Europa. Denn innerhalb der Ukraine hat sie anscheinend niemanden sonst, auf den sie sich verlassen könnte. Mit Europa wird argumentiert - und Europa wird instrumentalisiert. Von Europa erwartet man harte, aber gerechte Sanktionen.

Unsere Politiker behandeln Europa wie eine "Geburtstagstorte"

Europäer sind wir in erster Linie immer dann, wenn es unsere Interessen berührt - von den Vertretern des aktuellen, volksfeindlichen Regimes bis hin zu Politikern radikaler Parteien: Verbündete der Macht deponieren ihr Vermögen bei europäischen Banken. Alte Kommunisten unterstützen die Staatsführung eifrig bei der Umsetzung der von Europa angeregten Reformen. Junge idealistische Demokraten schnallen ihre Skier am liebsten auf den schönen Pisten der Alpen an. Selbst verbissene Nationalisten öffnen sich vorsichtig dem westlichen Einflussgebiet.

Ukrainische Politiker sprechen von Europa wie Kinder von einer Geburtstagstorte, die längst in der Küche wartet und bei der das eigentliche Problem nur noch darin besteht, ob man sie gleicht aufisst oder doch lieber auf morgen wartet. Wir leben von Illusionen und trügerischen Hoffnungen auf fremde Aufmerksamkeit und fremden Schutz. Wir verlassen uns auf die Erklärungen der ausländischen Staatsführer in der Hoffnung, hinter den banalen wirtschaftlichen Interessen die hellen Strahlen der globalisierten Demokratie zu erblicken.

Bedürfnis nach einem demokratischen Erlöser

Woher kommt das? Wahrscheinlich aus Selbstunsicherheit und Kraftlosigkeit. Aus Apathie, Angst und dem nicht vorhandenen Ideal, eine Gemeinschaft zu sein, die sich gegenseitig unterstützt. Eine Gesellschaft, die ihrem eigenen Premierminister nicht glaubt, ist gezwungen, einem anderen zu glauben. Viele würden dem eigenen Premier nicht einmal ihren Platz in einer Schlange kurz anvertrauen - aus Angst, er würde ihn in der Zwischenzeit an jemand anderen weiterverkaufen.

Gegenseitiges Misstrauen und fehlende realistische Perspektiven auf Wandel sind die Ursache all dieser verzweifelten Bemühungen, die Unterstützung der Starken dieser Welt für sich zu gewinnen. Das Unvermögen, eigene Probleme selbst zu lösen, verstärkt das Bedürfnis nach einem starken und gerechten Verteidiger. Einem von demokratischen Grundsätzen getriebenen Erlöser, der all die Ungerechtigkeiten bekämpft, die uns geschehen.

Die Hoffnungen auf die Länder mit entwickelten Demokratien sind so intensiv und gleichzeitig so wirkungslos, dass Vorwürfe unvermeidlich sind. Aber welche Ansprüche kann man gegenüber Europa erheben? Kann man zum Beispiel Europa vorwerfen, mit unserer verbrecherischen Staatsmacht zusammen zu arbeiten, die wir doch selbst gewählt haben? Oder Europa seine mangelnden Bemühungen verübeln, unsere Korruption zu bekämpfen, welche wir doch inzwischen alle gemeinsam so aktiv pflegen? Oder die ausbleibenden Schritte Europas zur Überwindung unserer internen Sprach-, Religions- und Weltanschauungsgräben bemängeln?

Wir müssen selbst Verantwortung übernehmen!

Kurz gesagt: Europa scheint bei uns tief verschuldet zu sein. Europa ist schuld, dass es unsere Konflikte nicht für uns beigelegt hat, dass es nicht Partei für uns ergreift und keine Konten einfriert, keine Sanktionen verhängt und uns allen letzten Endes keine unbefristeten Schengen-Visa ausstellt, damit wir unsere Heimat mit all ihren Problemen und Widersprüchen für immer verlassen können.

Mir scheint das Hauptproblem der heutigen ukrainischen Gesellschaft in ihrer Unfähigkeit und ihrem Unwillen zu bestehen, selbstständig eigene Taten zu verantworten. Wir sind schnell und ungeniert dabei, die Schuld für eigene Fehler und Dummheiten anderen zuzuschieben. Hauptsache, wir selbst müssen nicht dafür gerade stehen. Wir neigen dazu, in Hysterie und Verzweiflung zu verfallen. Und trotzdem sind wir immer wieder bereit, alle Beleidigungen und alle Lügen unserer Politiker zu vergessen und mal wieder (zum zigsten Mal) unser Vertrauen in sie zu setzen.

Wenn wir all unsere politischen Probleme nüchtern betrachten: Auf wen sollen wir uns denn verlassen, wenn nicht auf Europa? Wenn auch Europa selbst gar nichts von seiner Rolle als unser Hoffnungsträger ahnt.

Geben Sie Serhij Zhadan recht, oder haben Sie eine ganz andere Meinung? Wir freuen uns auf Ihr Feedback auf Facebook, Google+ oder Twitter.

Serhij Zhadan (39) ist ein erfolgreicher ukrainischer Schriftsteller. Seine Gedichte und Romane handeln häufig von der gesellschaftlichen Entwicklung der Ukraine nach dem Ende des Kommunismus. 2006 wurde Zhadan mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet. Während der Orangenen Revolution ging er selbst als Aktivist auf die Straße. Auf Deutsch ist von ihm zuletzt der Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" erschienen.